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Der Prozessionszug hatte sich inzwischen neu formiert. Einmal noch sollte das Bild der Göttin um den riesigen Tempel herumgetragen werden, dann würde man Artemis wieder in ihre kostbaren Gewänder hüllen und zum Giebel des Tempels hinauftragen, von wo aus sie der Opferung der ihr geweihten Stiere und Ziegen beiwohnen würde.

Den ganzen Weg über hatte Philippos kein Wort herausgebracht. Verärgert musterte Samu den mürrischen Griechen aus den Augenwinkeln. Wenn er glaubte, er könne seine schlechte Laune an ihr auslassen, dann hatte er sich geirrt. Sie war erst vor zwei Wochen aus Pompeji nach Ephesos gekommen, doch hatte sie sich in der kurzen Zeit schon mehr als genug über ihn geärgert. Dieser aufgeblasene ehemalige Legionsarzt spielte sich auf, als sei er Hippokrates persönlich.

Als neuer Leibarzt des Ptolemaios glaubte er, sie gängeln zu können, und wann immer sie auch nur einen Kräutertrunk gegen eine Magenverstimmung ansetzte, meinte er, sich einmischen zu müssen. Selbst in die Erziehung Kleopatras hatte er ihr schon hineingeredet! Der Grieche hatte doch tatsächlich die Unverschämtheit besessen, der Kleinen zu erklären, als Prinzessin mit makedonischem Blut sei es viel wichtiger für sie, Zeus und Athene zu opfern, statt den tierköpfigen Göttern eines Barbarenlandes.

Daß sie beide jetzt nicht an dem Bankett teilnehmen konnten, von dem Philippos schon seit Tagen redete, bereitete Samu eine gewisse Genugtuung. Ihr bedeutete der Festschmaus nichts, doch dem Griechen war das Gelage aus ihr unerklärlichen Gründen sehr wichtig gewesen.

Potheinos hatte ihnen beiden den Befehl gegeben, sich den toten Mundschenk noch einmal genauer anzusehen. Samu kannte den Berater des Pharaos als kaltblütigen Machtmenschen, der auch vor Morden nicht zurückschreckte, wenn es für ihn darum ging, seine Ziele zu erreichen. Doch als er ihnen den Befehl zur Leichenschau gegeben hatte, wirkte er aufgewühlt, ja sogar regelrecht erschüttert. Ganz so, als habe er etwas Unglaubliches gesehen! Der Eunuch war leichenblaß gewesen, und während er mit ihnen sprach, hatte Samu bemerkt, wie seine Hände zitterten.

»Hier ist es!« Der Priester, der sie und Philippos geführt hatte, wies auf einen niedrigen Stall. »Dort drinnen haben wir ihn aufgebahrt.«

»Na schön«, rief Philippos. »Dann schauen wir uns Buphagos kurz an und erledigen unsere leidige Pflicht. Wir müssen hier ja nicht mehr Zeit verbringen als unbedingt notwendig. Ich bin Arzt: mit Toten habe ich nichts zu schaffen!« Ein wenig steif trat er in den Stall, aus dem ihnen der herbe Geruch von Stroh und Urin entgegenschlug.

»Was ist mit dir? Willst du hier draußen warten?« fragte Samu den jungen Priester.

Der Mann wich ihrem Blick aus. »Ich muß dort nicht hinein. Ich habe ihn schon gesehen ... Meine Aufgabe war allein, Euch hierher zu bringen, Herrin.«

Ohne weiter auf den Kureten zu achten, trat die Isispriesterin in das Zwielicht des langgestreckten Baus. Ein paar Schritt vor ihr kniete Philippos am Boden und untersuchte Buphagos, den man auf eine alte Pferdedecke gebettet hatte. Weiter hinten im Stall erklang das unruhige Schnauben eines Stiers.

Samu ließ sich neben dem Griechen nieder und betrachtete das Gesicht des toten Mundschenks. Seine Züge waren so gräßlich entstellt, als hätte er im Augenblick des Todes die schrecklichsten Qualen erlitten. Aus seinen Augen war ihm Blut auf die Wangen gelaufen. »Was glaubst du, woran er gestorben ist?«

Philippos schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat keine Wunden!«

»Und das Blut?«

»Ich kann es nicht sagen. Es sieht aus, als habe er blutige Tränen geweint. Ich konnte keine Verletzungen an seinen Augen finden. Nur ein paar ganz leichte Schrammen, doch die scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Es sieht fast so aus .« Der Arzt verstummte.

»Was? Wonach sieht das aus?« Samu beugte sich über den Toten. In dem schlechten Licht konnte man nicht recht sehen, ob er nicht doch kleine Wunden an den Augenlidern hatte.

Zumindest waren seine Augäpfel unverletzt. Samu griff nach einem Zipfel der Pferdedecke, spuckte darauf und machte sich daran, das Blut und die dicke, schwarze Schminkpaste um die Augen das Mundschenks abzuwischen.

»Die Göttin. Er hat sie beleidigt ...«

Die Priesterin blickte zu Philippos auf. Die Stimme des Griechen war kaum mehr als ein Flüstern, und er machte ein Gesicht, als säßen ihm die Erinnyen im Nacken. »Du glaubst, Artemis hat ihn getötet?«

Der Arzt nickte. »Man sagt, daß Menschen, die plötzlich sterben, ohne daß es irgendeine erkennbare Ursache für ihren Tod gibt, von den Pfeilen der Artemis getroffen wurden. Sie ist eine Jägerin und oft launisch. Kein Gott des Olymp versteht es, mit Pfeil und Bogen so umzugehen wie sie. Sieh dir nur Buphagos an! Schau in seine Augen! Sie bluten, ohne daß er eine Wunde hätte. Die Pfeile der Göttin haben ihn in die Augen getroffen. Vielleicht hatte er getrunken und ist deshalb auf den Prozessionsweg getaumelt? Das wäre für die Jägerin sicher schon Grund genug, ihn zu richten.«

Samu beugte sich über das Gesicht des Toten. »Er riecht nicht nach Wein. Es paßt auch nicht zu ihm. Solange ich Buphagos kenne, habe ich ihn noch nie betrunken erlebt.«

»Vielleicht hat er irgend etwas anderes eingenommen? Du weißt nur zu gut, wie viele Kräuter es gibt, die einem noch wesentlich mehr die Sinne verwirren als ein paar Becher Wein.«

Die Priesterin schüttelte den Kopf. »Diese Kräuter, wie du sie nennst, bringen die Menschen den Göttern näher. Außerdem hat der Mundschenk schon vor Schmerzen geschrien, als er von den Stufen des Tempels taumelte. Wenn er wirklich durch die Pfeile der Artemis gestorben ist, dann hat die Göttin ihn jedenfalls nicht dafür bestraft, daß er die Prozession gestört hat.«

Philippos strich sich über den Bart und schüttelte leicht den Kopf. »Aber was könnte er getan haben? Weißt du, ob er in die Intrigen des Potheinos verwickelt ist?«

Die Isispriesterin zuckte mit den Schultern. »Ein wirklich guter Intrigant zeichnet sich dadurch aus, daß jeder ihn für harmlos hält.« Es war weniger der Tod des Mundschenks, der ihr Sorge machte, als vielmehr die Konsequenzen, die daraus für Ptolemaios und alle, die mit ihm nach Ephesos gekommen waren, erwachsen konnten. Was geschah, wenn die Priesterinnen der Artemis ebenfalls zu der Überzeugung kamen, daß Buphagos von den Pfeilen der Göttin gerichtet worden war? Würden sie Ptolemaios dann vertreiben? Oder würde womöglich gar Schlimmeres geschehen? Es waren keine dreißig Jahre vergangen, seit die Epheser in einer einzigen Nacht alle Römer ermordet hatten, die sich in ihrem Herrschaftsbereich aufhielten. Auch der sonst so sichere Asylbereich rund um das Artemision hatte in dieser Blutnacht keinen Flüchtling zu schützen vermocht. Allein die Götter wußten, ob es ihnen nicht schon bald ähnlich ergehen würde. Immerhin hatte Buphagos das heiligste Fest der Göttin gestört und hatte daraufhin auf rätselhafte Weise sein Leben verloren. Es war schon aus unbedeutenderen Anlässen zu Volksaufständen gekommen.

Die Isispriesterin erhob sich. »Wir sollten den Leichnam des Mundschenks von hier fortbringen lassen. Es ist besser, wenn die Priester der Göttin ihn sich nicht anschauen. Sie könnten vielleicht ebenfalls zu der Überzeugung kommen, daß Buphagos von unsichtbaren Pfeilen getötet wurde. Außerdem möchte ich ihn mir morgen noch einmal bei besserem Licht anschauen. Vielleicht gibt es ja etwas, das wir übersehen haben.«