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»Unsinn!« Die Prinzessin schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Sklaven heute morgen in der Küche reden gehört. Irgend etwas Unheimliches muß beim Tempel geschehen sein. Man sagt, daß Thanatos, der Todesgott, aus einem der Marmorfriese gestiegen sei und einen Mann enthauptet habe.«

Samu war mit einem Schlag hellwach. »Was für einen Mann? Ist der Mord wirklich direkt vor dem Tempel geschehen?«

Kleopatra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Sklaven haben nur behauptet, daß der Tote wie ein Ägypter gekleidet sei. Hassen uns die Götter dieser Stadt, Samu? Hat mein Vater ihnen ein Unrecht getan?«

Die Priesterin unterdrückte einen Fluch und schwang sich vollends von der Kline. Sie haßte den Moment, an dem sie morgens ihre nackten Füße auf den kalten Steinboden aufsetzte.

Rasch schlüpfte sie in ihr langes weißes Priesterinnen-gewand, verknotete es kunstvoll vor der Brust und streifte dann ihre Sandalen über.

»Wirst du mich mitnehmen?«

»Ich weiß nicht, ob ein toter Mann der rechte Anblick für eine Prinzessin ist.«

»Aber mein Vater hat mir auch schon erlaubt, bei Hinrichtungen anwesend zu sein. Er meint, ich sollte den Anblick des Todes kennen, um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem ich einst als Herrscherin mein erstes Todesurteil fälle.«

Samu nickte nachdenklich. Sie war unsicher, ob die Entscheidung Ptolemaios’ weise war oder ob er seiner Tochter so den Respekt vor einem Menschenleben genommen hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, um in philosophische Grübeleien zu versinken. »Du darfst mich begleiten, Prinzessin. Aber wenn ich dir sage, daß du zurückgehen sollst, dann wirst du dich meinen Worten fügen und nicht lange mit mir über meine Entscheidung diskutieren.«

»Versprochen!«

Vor dem Artemision hatte sich ein ganzer Pulk von Schaulustigen eingefunden, um die lebendig gewordene Statue zu bestaunen. Einige Priester und Tempelwächter versuchten, die Neugierigen zurückzudrängen. Samu mußte energisch darauf pochen, eine Gesandte im Auftrag des Ptolemaios zu sein, um mit Kleopatra überhaupt bis zu den Stufen des Tempels vorgelassen zu werden. Vor dem Eingang zum Pronaos, der Vorhalle des Artemisions, erhoben sich drei Reihen riesiger Säulen, die über ihren Sockeln jeweils mit mannshohen Reliefs geschmückt waren. An der Säule links neben dem hohen Portal zur Tempelvorhalle, hatte sich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen um eine am Boden liegende Gestalt geschart.

Nach den Gewändern zu schließen, mußte es sich bei dem Toten um Buphagos handeln. Doch wie, bei den Göttern, mochte er hierhergekommen sein?

Ein Mann in einem bunt bestickten Leinenpanzer löste sich aus der Gruppe und trat Samu in den Weg. »Seid Ihr im Auftrag Eures Königs hier?«

Samu nickte zögerlich. »Sozusagen ...«

Der Fremde runzelte die Stirn. »Sozusagen?« Er mochte höchstens dreißig Sommer alt sein. Sein Gesicht war wettergegerbt und wurde von einer gewaltigen Adlernase beherrscht. »Wie darf ich das verstehen?«

»Wer fragt mich das? Ich stehe unter dem Schutz des Tempels und bin allein der Hohepriesterin Rechenschaft schuldig.«

Der Mann trat einen Schritt zurück und verbeugte sich mit übertriebener Geste. »Verzeiht, wenn ich Eure Würde verletzt haben sollte, ägyptische Prinzessin.« Samu hörte, wie Kleopatra hinter ihrem Rücken zu kichern begann. »Man nennt mich Orestes. Ich bin der Eirenarkes von Ephesos, der Beamte, der für die Sicherheit der Stadt zuständig ist. Die Hohepriesterin hat mich hierhergebeten, damit ich mir den Toten ansehe. In der Stadt hat es bereits einiges Gerede wegen des Vorfalls während der Prozession gestern gegeben. Kennst du diesen Mann?«

Samu nickte. »Es ist Buphagos, der Mundschenk des Pharao. Er war es, der gestern die Prozession störte.«

Orestes preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und musterte Samu einen Augenblick lang. Dann stieß er einen leisen Seufzer aus. »Ihr habt gesehen, was mit dem Leichnam passiert ist?« Er trat zur Seite, so daß die Isispriesterin jetzt das Relief am Sockel der riesigen Säule betrachten konnte, vor der der Tote lag. Die Steinmetzarbeit zeigte den Todesgott als nackten, geflügelten Jüngling, der mit Mohn bekränzt war und ein Schwert an seiner Seite trug. Er hatte ein ebenso schönes wie unnahbares Gesicht, und ein unbekannter Künstler hatte den Marmor so vollkommen bemalt, daß der braungebrannte Körper glänzte wie der Leib eines Athleten, der sich gerade mit Öl eingerieben hatte. Daneben stand eine schöne Frau in einem langen, himmelblauen Chitonion, zu dem sie einen schön drapierten roten Mantel trug.

Erschrocken hatte sie ihr bleiches Gesicht von Thanatos abgewandt und betrachtete den nackten Götterboten Hermes, der links von ihr stand.

»Ihr kennt die Geschichte von Alkestis, die ihr Leben für ihren Mann Admetos gegeben hat? Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, daß Thanatos den Leichnam des Mundschenks ausgerechnet hier zurückgelassen hat? Oder ist es ein Zeichen dafür, daß dieser Mann sein Leben für einen anderen gegeben hat?«

»Was willst du damit andeuten?« fragte Samu gereizt.

»Die Priesterinnen sind davon überzeugt, daß Thanatos in die Gestalt des Marmorbildes gefahren ist und den Toten hierher brachte, um uns eine Botschaft zu übermitteln. Seht ihn Euch an! Seine rechte Hand ist noch blutig, ebenso das Schwert an seiner Seite.«

Samu trat über den Toten hinweg und betrachtete das mannshohe Relief. Tatsächlich war die rechte Hand des geflügelten Gottes mit getrocknetem Blut besudelt. Ebenso das Schwert an seiner Seite. Doch das war unmöglich!

Unschlüssig blickte sie auf den Toten hinab. Sein Kopf war mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden. Der Schlag mußte mit großer Kraft geführt worden sein. Das sprach dafür, daß ein Gott den Leichnam enthauptet hatte.

Aber wie hatte sich Thanatos mit Blut besudeln können? Buphagos war schon seit vielen Stunden tot, als der Gott kam, um ihn zu richten, und das Blut des Mundschenks mußte längst in seinen Adern erstarrt sein. Weder in der Nähe des Leichnams noch auf den hellen Marmorstufen des Tempels waren weitere Blutspuren zu sehen. Nachdenklich strich sich die Isispriesterin über ihr Kinn und versuchte sich vorzustellen, wie der Todesbote aus der Säule gestiegen war und was er dann getan haben mochte.

»Zweimal in nur zwei Tagen hat sich uns das Wirken der Olympier offenbart«, murmelte Orestes düster. »So etwas ist seit dem Zeitalter des Herakles nicht mehr geschehen. Die Hohepriesterin wünscht zur Mittagsstunde Euren König zu sehen, Ägypterin. Sie will mit ihm über die Vorkommnisse reden und darüber, daß beide Ereignisse in Verbindung mit ihm und seinem Hofstaat stehen.«

»Ptolemaios XII., der Neue Osiris, ist ebenfalls ein Gott, und kein Sterblicher kann ihm Befehle erteilen. Er wird die Hohepriesterin aufsuchen, wenn es ihm gefällt.«

Samu konnte sehen, wie dem Eirenarkes das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang schien es, als würde er die Beherrschung verlieren. Seine Mundwinkel zuckten unruhig. »Ich hoffe, daß der Gott ein Einsehen in die Wünsche der Menschen hat, sonst könnte es sein, daß er allein im Olymp noch auf Asyl zu hoffen vermag.«

»Ich werde dem Neuen Osiris deine Botschaft ausrichten, Orestes«, entgegnete Samu ruhig. »Und ich werde ihm auch deinen Namen nennen, damit er weiß, wie du von ihm redest. Komm, Kleopatra, laß uns jetzt gehen.« Samu hatte sich halb zu der jungen Prinzessin umgewandt, die neugierig das Relief des blutbesudelten Thanatos musterte. Dann stieg sie mit Kleopatra an ihrer Seite stolz die Stufen des Tempels hinab.