Er trat an die Anrichte und zog die zerknitterte Papiertüte hervor, aus der Kitty den Zucker genommen hatte. Er öffnete sie, und etwa fünfzehn Stückchen Hutzucker fielen auf den Tisch. »Hier steckt das einfache Geheimnis«, sagte er. »Und ich Trottel habe es nicht gemerkt! Ich habe euch gesagt, daß Arsenik ein weißes Pulver ist, ohne jeglichen Geschmack und Geruch. Verstehst du, worauf ich hinauswill, Giles?«
»Fürwahr, Sir! Aber.«
»Man braucht nur mit wenig Wasser eine dicke Arseniklösung zu bereiten«, fuhr Fenton voller Abscheu fort, »und den Zucker hineinzutauchen, ganz kurz, damit er nicht schmilzt. Das Arsenik wird dann absorbiert, und wenn ein weißer Überzug bleibt, nun, so läßt er sich nicht von der Farbe des Zuckers unterscheiden.« Er konnte die abergläubische Furcht vor Gift in den Augen der Umstehenden lesen, als sie langsam zurückwichen. »Ihr alle habt Kitty bei ihren Verrichtungen beobachtet«, fügte er hinzu. »Als sie die Mischung umrührte - entsinnt ihr euch noch? -, waren nur Milch und Eier in der Schale. Sie hatte noch nicht die vergifteten Zuckerklümpchen hineingeworfen. Später hat sie die Sektmolke nicht mehr umgerührt. Daher...«
»Halt, ich hab's!« rief Giles. »Die Zuckerstücke sinken auf den Grund und lassen das Gift noch nicht sofort ausströmen. Ich erinnere mich jetzt: Ihr und das Mädchen habt sofort getrunken, und zwar von der oberen Schicht. Deshalb wurde kein Schaden angerichtet. Das wußte das Mädchen ganz gut.« Fenton nickte.
»Giles«, sagte er während er den Zucker wieder in das Papier wickelte, »ich lasse dies in deiner Obhut. Bewahre es gut auf. Ein Dutzend Stücke, auf einmal genommen, könnten sehr wohl den Tod herbeiführen. Hier, nimm es.«
»Sir, ich ...«, begann Giles, als er zögernd das Päckchen mit dem Zucker in Empfang nahm.
Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Nun, Sir«, platzte er heraus, »dies ist eine Sache für den Friedensrichter, dies bedeutet den Galgen in Tyburn!« Kitty, die trotz ihrer Schmerzen immer noch nicht geduckt war, richtete sich mühsam wieder auf und drehte sich um. »So, einem Amtskehr wollt ihr mich übergeben, wie?« schrie sie, einen Ausdruck für Friedensrichter aus der Gaunersprache wählend. »Was ich nicht alles einem Amtskehr erzählen könnte ...!« Giles wollte wieder die Peitsche heben. Doch Fentons Hand hielt ihn zurück. Kitty hatte keinen Blick für Fenton oder Giles. Sie blickte unverwandt auf Lydia, und nackter Haß sprach aus ihren Augen.
Lydia, eine Frau ihrer Zeit und ihrer Generation, hatte sich nicht weiter aufgeregt über das, was sie sah, hörte oder sogar roch. Jetzt hob sie den Kopf, die Wangen ein wenig gerötet und die Augenlider gesenkt. Sie war durchaus keine herrische Natur und wünschte es auch nicht zu sein. Gegen Kitty hegte sie keinen besonderen Groll wegen des Vergiftungsversuchs. So etwas kam vor; das war nun mal der Lauf der Dinge. Nein, in den Augen unter den gesenkten Lidern lag etwas anderes: eine schaudernde Abneigung gegen die Rivalin.
»Wenn du den Diamantring meinst«, sagte sie mit kalter Stimme zu Kitty, »den du mir gestohlen hast.«
»Gestohlen?« schrie Kitty. »Euer Mann .«
»Du lügst; denn ich habe gesehen, wie du ihn stahlst. Und wahrlich, er gehört mir, da mein Name darin eingraviert ist. Aber, bitte, behalte den Ring. Ich möchte ihn nicht wieder tragen. Selbst ein Ring kann . besudelt werden.«
Bei diesen Worten warf Lydia ihrem Mann einen fast anbetungsvollen Blick zu. Fenton war erstaunt.
»Teuerster Gemahl«, sagte sie, »ich habe gesprochen, weil ich dazu gezwungen war. Nun macht mit ihr, was Ihr wollt.«
Die anderen Dienstboten starrten Kitty haßerfüllt an. Giles nahm den Griff der Peitsche fester in die Hand. Big Tom betrachtete den schweren Feuerhaken und klopfte sich damit auf die Handfläche. Kitty sah sie blitzschnell der Reihe nach an.
»Gib ihr.«, begann Fenton und brach angewidert ab. Wie konnte er wissen, was Sir Nick angestellt hatte? »Gib ihr. nein, verdammt noch mal! Ich . ich kann eine Frau nicht peitschen lassen. Laß es gut sein!«
»Sir«, sagte Giles, »nicht weit von hier wohnt ein strenger, redlicher Richter namens .«
Fenton wehrte ab. »Nein, ich will keinen aufsehenerregenden Skandal, auch keine von euren schmutzigen Galgenszenen. Ob die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt oder nicht, schließlich ist niemand gestorben. Gib ihr. gib ihr ein paar Goldstücke, und setze sie innerhalb einer Stunde auf die Straße. Sie hat einen wertvollen Ring, den sie auf den Wunsch meiner Frau behalten mag. Aber sie darf nicht zurückkehren. Wir haben ja wohl Hunde, nicht wahr?«
»Vier Doggen, Sir, die auf den Mann dressiert sind. Whiteboy, der Terrier, hat Räude und kann heute abend keine Ratten jagen.«
»Das genügt. Sollte sie versuchen, wieder ins Haus zu gelangen, hetzt die Hunde auf sie. Das wäre alles. Ich wünsche euch gute Nacht.«
Er hob den silbernen Kerzenleuchter von der Stufe und leuchtete Lydia die Treppe hinauf. Die vier in der Küche waren sprachlos vor Staunen.
Fenton, der in der einen Hand das Licht trug und die andere um Lydia geschlungen hatte, wurde von tausend Qualen heimgesucht.
»Ich hätte alles drum gegeben«, gestand er unglücklich, »wenn ich dir diese Szene da unten hätte ersparen können.« Er spürte, wie sie ihn erstaunt ansah.
»Aber Nick!« Sie senkte die Stimme zu einem Geflüster. »Da unten habe ich dich gerade aufs höchste bewundert. In einer halben Stunde bist du diesem Giftgeheimnis auf die Spur gekommen. Und - und kein Hausherr in London wäre so milde bei der Bestrafung gewesen.«
»Lydia, dieser Ring. ich .«
»Still! Ich denke nicht mehr daran.«
»Aber ich kann es nicht erklären. Es war nicht mein eigentliches Ich.«
»Und bin ich mir dessen nicht bewußt? Ich kenne dich .« Lydia brach ab und grübelte. »Oder kenne ich dich etwa nicht? Seltsam! Doch der eine Nick, den ich bis zum Wahnsinn liebe, ist der, dem ich gestern abend und heute morgen und an diesem Abend begegnet bin. Du bist so . ach, nein, ich kann's nicht sagen.«
»Es bedarf auch keiner Worte.«
Lydia blickte sich verstohlen im Flur um, als sie vor ihrer Tür standen. Es war, als halte sie Ausschau nach einer lauernden Judith Pamphlin.
»Nick«, flüsterte sie, »ich brauche doch heute abend keine Zofe, nicht wahr? Dieses Gewand ist ganz leicht aufzumachen, und das übrige . nun!« Lydia errötete heftig, aber ihre Augen strahlten, als sie hastig fortfuhr: »Nick, Nick, müssen wir unbedingt erst noch zu Abend essen?«
»Nein! Nein! Nein!« Und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Im Hause erloschen bald alle Lichter.
Lydia und Fenton konnten ihre Leidenschaft nicht länger eindämmen. Sie verbrachten eine maßlos wilde, ungestüme Nacht. Einmal kam Fenton flüchtig der Gedanke, daß dieses Puritanergeschöpf mehr Erfahrung besaß als die meisten anderen Frauen. Ganz kurz verwünschte er seine zweite Seele, die an Meg hing, aber bald vom Gefühl für Lydia überschwemmt wurde. Im Morgengrauen, als beide gerade in einen erschöpften Schlaf sinken wollten, umklammerte Lydia ihn leidenschaftlich und brach in heftiges Schluchzen aus. Er schwieg, und bald darauf war sie eingeschlummert.
Nach einer Weile schlief er ebenfalls ein. Draußen in dem Rankenwerk zirpten die Vögel. In das Grau des Himmels mischte sich ein geisterhaftes Weiß. Und so glitten die beiden Menschen aus dieser Nacht in eine von Glück erfüllte Zeit.
XI
In den ersten vierzehn Tagen seines neuen Lebens, während sich das Grün der Blätter in der warmen Maisonne vertiefte, lernte Fenton so mancherlei.
Er lernte, die Speisen dieses Jahrhunderts zu essen, hauptsächlich Fleisch mit dicken, fetten Saucen, die er dank seiner jugendlichen Verdauung genießen konnte. Kartoffeln, Eier, Fisch und guten Käse gab es in Massen. Niemand, stellte er mit Vergnügen fest, plagte einen, aus Gesundheitsgründen Gemüse zu essen. Also strich er es von seinem Speisezettel.