»Oh, wir sind gleich zu Hause«, murmelte sie.
Blaß und verstört öffnete Giles ihnen die Haustür. In der Halle brannten sämtliche Wandkerzen.
»Gott sei Dank, daß Ihr sicher heimgekehrt seid, Sir«, sagte Giles erleichtert. »Mr. Reeve, der ja versprochen hatte, Euch stets zu warnen, wenn Gefahr im Anzug ist, schickte einen Brief. Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, aber ich habe ihn geöffnet. Es stand darin, daß drei Gentlemen in Spring Gardens über Euch herfallen würden. Mr. Reeve wußte nicht, wo und wann.« Giles fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich hielt es für ratsam, Big Tom mit den Doggen zu Euch zu schicken.«
Lydia war inzwischen ohne weitere Bemerkung auf ihr Zimmer gegangen. Big Tom brachte die Hunde nach unten, um sie für die Nacht ins Freie zu lassen.
»Waren die Namen dieser >Gentlemen< im Brief erwähnt?« erkundigte sich Fenton in scharfem Ton.
»Nein, Sir. Er enthielt nur eine Andeutung.« Giles ließ den Satz unvollendet. »Sir, ich habe den Brief nicht bei mir. Es hat Zeit bis morgen.«
Fenton gab ihm recht. Betroffen entdeckte er Megs Cape über seinem Arm. Die Situation wurde immer schlimmer. »Du hast deine Sache gut gemacht, Rotkopf«, lobte er und erstattete kurz Bericht über den Vorfall. Danach bat er Giles hastig, das Cape fortzuschaffen, und ging zögernd nach oben. Obgleich er sich bemühte, eine Entschuldigung zu formulieren, gelang es ihm nicht. Lydias Tür war geschlossen. Er klopfte an, was er sehr selten tat, und wurde gebeten, einzutreten.
Eine einzige Kerze brannte im Zimmer, und Lydia, die Kleid und Haare wieder in Ordnung gebracht hatte, stand vor dem Spiegel. Abermals versuchte Fenton, die richtigen Worte zu finden. Er würgte und würgte und brachte schließlich nur die Frage hervor, ob sie etwas zu essen oder zu trinken wünsche.
»Danke für die Nachfrage«, sagte Lydia in kühlem Ton und drehte sich um. »Aber wir müssen sicherlich lange bei Tisch verweilen, ehe unser Gast ankommt.«
»Was für ein Gast?«
»Nun«, meinte Lydia, überrascht die Augenbrauen hochziehend, »wer denn anders als deine süße Meg? Was? Nicht auf Meg warten? Wie zärtlich du ihr Cape an deine Brust preßtest!« Ihre Stimme nahm einen wilderen Klang an. »Was hast du mir doch für einen listigen Streich gespielt! Mich einfach in diese vulgären Anlagen von Spring Gardens zu locken, wo ich gar kein Verlangen danach hatte! Ich darf wohl meinen eigenen Augen nicht mehr trauen, wie? Aber fürwahr! Sie lag auf dem Rücken, und du warst im Begriff.«
»Lydia! Du benimmst dich wie ein Kind.«
Aus Lydias Gesicht wich langsam die Farbe, so daß ihre Augen ungeheuer groß wirkten.
Dann begann sie zu reden, und es war wie die Entladung sämtlicher Geschütze einer Breitseite.
Wenn Fenton bisher Anzeichen ihrer heftigen Besitzgier und Eifersucht bemerkt hatte, war er entweder amüsiert gewesen oder hatte sich gar geschmeichelt gefühlt. Er hatte sich eben wie ein neubackener Ehemann in der vierten Woche des Flittermonats benommen, der er gewissermaßen ja auch war. Später werden die Männer schlauer, und so erging es ihm jetzt. Es war eine böse Gardinenpredigt, und sie dauerte eine halbe Stunde. Lydia sezierte Megs Charakter und gleichzeitig seinen eigenen. Jede vornehme Dame hatte ein ausgedehntes Vokabular von derben Ausdrücken und gebrauchte es auch, sogar ganz ungezwungen, in der Öffentlichkeit. Lydias Stimme wurde laut, als sie Kitty und Fenton zerfleischte und deren Beziehungen beschrieb, wie sie sich diese vorstellte. Als er angewidert protestierte, verlangte sie zitternd zu wissen, ob er sich denn nicht bewußt sei, daß er ihren Diamantring gestohlen habe, um ihn der Schlampe zu schenken?
Je mehr sie tobte, desto phantastischer wurden die Anklagen, die sie ihm ins Gesicht schleuderte. Es gab keine Handlungsweise - vom Geiz bis zum Mord -, deren sie ihn nicht bezichtigte. Da sie selbst aufs tiefste verletzt war, trieb sie ein Impuls dazu, ebenfalls zu verletzen und immer wieder zu verletzen. Einmal stürzte sie sich sogar mit dem goldenen Dolch auf ihn und stach blindlings zu. Er mußte ihr fast das Handgelenk brechen, ehe sie von ihm abließ. Und Fenton ...
Er hatte eine schwierigere Aufgabe. Er bemühte sich zwar, das Schweigen zu wahren, aber er geriet allmählich auch in Zorn, und damit nahm Sir Nick von ihm Besitz. Die fleischlose Hand packte ihn; die dürren Gebeine klapperten in dem morschen Sarg. Fenton preßte sich die Hand auf die Augen und wehrte sich mit aller Gewalt dagegen. Wenn Sir Nick jetzt die Oberhand gewinnen sollte, waren die Folgen nicht auszumalen. Doch allmählich verschwand die Dunkelheit, die sich auf ihn herabzusenken drohte, und er wußte, daß er wieder den Sieg davongetragen hatte. Aber er mußte unbedingt den Raum verlassen.
Gemessenen Schrittes ging er zur Tür und schlug sie hinter sich zu, was die Wirkung seines Verhaltens ein wenig beeinträchtigte. Er hörte, wie Lydia sofort hinzusprang und den Riegel vorschob.
Das Haus lag völlig im Dunkeln.
Fenton fiel taumelnd gegen die Wand und tastete sich daran entlang. Sobald er etwas ruhiger geworden war, rief er nach Giles, der bald darauf aus der Dunkelheit auftauchte, in jeder Hand eine Kerze.
»Was gibt's denn, Sir? Wieder ein neuer .?« Giles brach ab.
»Zünde die Kerzen in meinem Studierzimmer an, guter Freund. Dann hole eine Karaffe unseres besten Kanariensekts. Nein, halt: unseres besten Brandys.«
»Sir! Dürfte ich vielleicht.«
Fenton warf ihm einen einzigen Blick zu, und Giles verschwand, ohne ein Wort zu sagen.
Fenton wischte sich den Schweiß von der Stirn, und nach einer Weile fühlte er sich besser. Die Tür zu seinem Studierzimmer war offen. Auf dem großen, polierten Schreibtisch inmitten der mit Büchern bedeckten Wände brannte flackernd eine Kerze in einem silbernen Halter. Fenton setzte sich in den Schreibtischsessel. »Ich liebe sie«, sagte er laut zu der Kerzenflamme. »Es war meine Schuld. Das gebe ich zu. Und auf irgendeine Weise muß ich sie wieder in gute Laune versetzen. Dennoch .« In Gedanken sah er Meg York vor sich. Er konnte ihr nicht widerstehen, daß wußte er jetzt. Aber warum nur? Wegen ihrer verlockenden körperlichen Reize? Ja; aber die besaß Lydia auch. Allerdings hatte er Meg nie in dem Sinne gekannt, wie er Lydia kannte. Sie mußte aber wahnsinnig aufreizend sein, wenn sie die Puritanerin noch übertraf. Oder lag es an ihrer Leidenschaft, ihrem geheimnisvollen Wesen, ihrer äußersten Unbekümmertheit in allen ihren Handlungen - ein Sprühteufel, wie ihn viele Männer gesucht und manche gefunden haben? Aber jetzt gab es noch etwas anderes, das sie zueinandertrieb. Meg war Mary Grenville. Er hatte ihr Gesicht gesehen, ihre Stimme gehört, die durch die Spracheigentümlichkeiten dieses Zeitalters so sehr verändert war wie ihre äußere Erscheinung durch Frisur und Kostüm. In seinem früheren Dasein hatte er Ma - nein, es war besser, sie Meg zu nennen - nie in einer solchen Haartracht gesehen. Auch hatte er nie besonders auf ihre Figur geachtet. Sie war ein Wandergenosse in einem anderen Jahrhundert. Bei all ihrem Schneid mußte sie sich oft recht einsam und verängstigt fühlen. Dann war sie die Tochter seines alten Freundes . Fenton schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich darf sie nicht wiedersehen!« sagte er laut. In seiner Tasche ruhte das Stück Papier, worauf Meg ihre beiden Adressen notiert hatte. Er holte es hervor und streckte die Hand aus, um es an der Kerzenflamme zu verbrennen, hielt aber plötzlich inne.
»Wie ist Mary Grenville Meg York geworden?« fragte er sich plötzlich. »Warum ist sie hier? Allen meinen Fragen ist sie ausgewichen, oder sie hat mich auf später vertröstet. Aber die Antworten auf diese Fragen muß ich haben!« Aus diesem Grunde - das redete er sich jedenfalls ein -, trat er an einen der Bücherschränke, nahm einen Band heraus und legte das Stück Papier zwischen die Blätter. Er stellte das Buch zurück an seinen Platz und saß bereits wieder im Sessel, als Giles eintrat. Giles trug ein Tablett mit einer Kerze, einer Glaskaraffe Brandy, der im Licht wie Bernstein schillerte, und einem gewölbten Glas. Man trank Brandy unverdünnt. Alle - von den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften bis zum gemeinsten Mann auf der Straße - wußten, daß Wasser für den Menschen ungenießbar war. Man ließ es den Tieren.