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Das ausgemergelte, nervös zuckende Gesicht des sogenannten »Märtyrers der Ethnographie« lebendig vor Augen, schüttelte Fandorin mitleidig den Kopf und blätterte um.

BLASPHEMIE IN DER AMERIKANISCHEN REKLAME DER TOD DES PRÄSIDENTEN stand jüngst in großen Lettern über New Yorks Hauptstraße, dem Broadway, zu lesen und jagte den Passanten einen heillosen Schrecken ein, bevor sie Gelegenheit hatten, das in weit kleinerer Schrift darunter Stehende zur Kenntnis zu nehmen: ... wäre eine Frage der Zeit, trüge er in unserem unwirtlichen Klima nicht die warme Wollunterwäsche der Garland Comp. Ein Repräsentant des Weißen Hauses hat gegen die schamlose Firma wegen Mißbrauchs des hohen Titels zu Geschäftszwecken Anzeige erstattet.

Na, so weit sind wir bei uns gottlob noch nicht, und es dürfte wohl kaum so weit kommen, dachte der Kollegienassessor befriedigt. Seine Majestät der Zar war eben doch nicht irgendein Präsident.

Und noch eine Überschrift ästimierte Fandorin, der für die Reize der schöngeistigen Literatur seit je empfänglich war:

LITERARISCHE VORTRÄGE

Im repräsentativen Saal des Hauses der Fürstin Trubezkaja hielt Professor I. N. Pawlow einen Vortrag über die zeitgenössische Literatur, der beträchtlichen Zustrom fand. Der Vortrag widmete sich der Analyse jüngster Werke von Iwan Turgenjew. Herr Pawlow legte anschaulich dar, wie tief dieses Talent in seiner Hascherei nach einer tendenziösen, falsifizierten Realität gesunken sei. Die nächste Vorlesung wird einer Analyse der Werke von Schtschedrin, dem namhaften Vertreter eines Realismus gröbster und irrigster Machart, Vorbehalten sein. Fandorin las den Artikel zu Ende und war irritiert. Die Herren Turgenjew und Schtschedrin zu preisen hatte in Kreisen russischer Diplomaten in Japan zum guten Ton gehört. Nun zeigte sich, wie weit er durch seine fast sechsjährige Abwesenheit hinter der literarischen Entwicklung zurückgeblieben war. Aber was gab es Neues auf technischem Gebiet?

TUNNEL UNTER DEM ÄRMELKANAL Die Länge des unter dem Ärmelkanal entstehenden Eisenbahntunnels beträgt mittlerweile 1200 Meter. Die Stollen werden von Ingenieur Brunton unter Anwendung eines Schnittbohrers vorangetrieben, der mit Druckluft funktioniert. Den Plänen zufolge soll die unterirdische Anlage eine Länge von etwas über dreißig Werst erreichen. Ursprünglich sah das Projekt vor, den englischen und den französischen Stollen binnen fünf Jahren zu vereinen, doch sind Skeptiker heute der Meinung, daß aufgrund des Arbeitsaufwandes bei der Auskleidung des Tunnels sowie der Schienenverlegung mit der Eröffnung der Strecke nicht vor 1890 zu rechnen sei...

Fandorin war dem Fortschritt zugetan, und die Grabung eines englisch-französischen Tunnels interessierte ihn außerordentlich. Den spannenden Artikel zu Ende zu lesen war ihm jedoch nicht vergönnt. Am Schanktresen drückte sich nämlich seit Minuten ein Herr im grauen Anzug herum, der ihm schon zuvor im Vestibül an der Loge des Oberhoteldieners aufgefallen war. Einzelne Worte, die an Fandorins vorzüglich geschultes Ohr drangen, erschienen ihm so erbaulich, daß er die Lektüre erst einmal abbrach, ohne die Zeitung deswegen sinken zu lassen.

»Versuch ja nicht, mich reinzulegen!« warnte der Herr in Grau den Büffetier. »Hattest Du gestern nacht Dienst oder nicht?«

»Ich hab geschlafen, Euer Gnaden!« brummte der Angesprochene, ein vierschrötiges, rotbäckiges Unikum mit geöltem und gescheiteltem Kinnbart. »Vom Nachtdienst ist nur Senja noch hier.« Mit einer Bartspitze deutete er auf den Jungen, der Tee und Piroggen austrug.

Der Graue winkte den Jungen mit dem Finger heran. Ein 25

Spitzel! beschied Fandorin zweifelsfrei und wunderte sich nicht weiter. Der Herr Polizeipräsident war ein ehrgeiziger Mann, der nicht wollte, daß sämtliche Lorbeeren erfolgreicher Ermittlung dem Sonderbeauftragten zufielen.

»Du, sag mir doch mal, Senja«, fragte der neugierige Herr den Jungen zuckersüß, »ist denn vorige Nacht bei Mamsell Wanda ein General mit seinen Offizieren gewesen?«

Senja schniefte, klapperte mit den weißblonden Wimpern und fragte zurück: »Als wie in der Nacht? 'N Gennrall?«

»Jaja. Ein General!« Der Spitzel nickte.

»Dahier?« Der Junge furchte die Stirn.

»Ja doch, hier, wo sonst?«

»Tun Gennralls inne Nacht rumfahrn?« erkundigte Senja sich ungläubig. »Warum nicht?« »'N Gennrall tut inne Nacht schlafen. Dafür isser Gennrall«, verkündete der Junge aus tiefster Überzeugung.

»Du ... du ... Paß bloß auf, wenn du mich zum Narren halten willst!« erboste sich der Graurock. »Dann nehm ich dich mit aufs Revier, da wirst du Vögelchen schon singen!« »Aufs Revier? Wieso, Onkel, ich bin doch 'n Waisenkind!« gab Senja zurück, und seine unschuldigen Augen füllten sich mit Tränen. »Aufs Revier darf ich nich mit, weil da davon krieg ich die Fallsucht.«

»Hach, ihr steckt doch alle unter einer Decke, ihr!« Der Agent spuckte aus. »Aber wartet nur, ich komm euch noch auf die Schliche!« Die Tür laut hinter sich zuschlagend, verließ er den Büfettraum.

Senja schaute ihm nach.

»Grätig, der Herr!« sagte er.

»Die gestern warn grätiger!« tuschelte der Büfettier und 26

gab dem Jungen einen Klaps auf den geschorenen Hinterkopf. »Das warn solche, die dir die Rübe abreißen, und die Polizei guckt bloß zu. Paß bloß auf, Senja, daß du dichthältst. Hast ja auch was einkassiert für, oder nicht?«

»Prof. Semjonowitsch, beim Allmächtgen!« sprudelte es aus dem Jungen, der dabei heftig blinzelte. »Ich schwör's Ihnen, Prof Semjonowitsch, auf die Heilje Muttergottes. Und sowieso hab ich nur fünf Dreier gekriegt, damit bin ich gleich in die Kirche, 'ne Kerze anzünden für die liebe Seele von meiner Mamma.«

»Fünf Dreier, ach Gottchen! Erzähl das mal deiner Großmutter. In die Kirche, guck an!« Der Büfettier holte aus, doch Senja entwischte flink, schnappte sich das Tablett und lief zu einem Gast, der gerufen hatte.

Fandorin legte die »Moskauer Regierungsnachrichten« beiseite und ging zum Tresen.

»War der Mann wirklich von der Polizei?« fragte er, und auf seinem Gesicht spiegelte sich höchste Pein. »Ich meine, ich bin ja nicht zum Teetrinken hier, Verehrtester, ich warte auf Frau Wanda. Wieso interessiert sich denn um Himmelswillen die P-... Polizei für sie?«

Der Büfettier maß ihn mit einem langen Blick, dann fragte er argwöhnisch: »Haben der Herr ... eine Verabredung?«

»Und ob ich die habe! Sonst t-t-... tat ich ja nicht auf sie warten.« Die blauen Augen des jungen Herrn blickten äußerst besorgt. »Aber mit der P-... damit will ich nichts zu tun haben. Mademoiselle Wanda wurde mir als anständige Dame empfohlen, und jetzt höre ich, die P-... Polizei ist hinter ihr her! Ein Glück, daß ich wenigstens in Zivil hier bin und nicht in Uniform.«

»Nicht doch, Euer Wohlgeboren«, besänftigte der Büfettier den erregten Gast. »Die Dame ist aller Ehren wert. Keine 26

Dahergelaufene. Manche Herren gehen in Uniform ein und aus, das gilt nicht als Schande.« »In Uniform?« Der junge Herr traute seinen Ohren nicht. »Etwa auch Offiziere?«

Der Büfettier und Senja, der schon wieder bei ihm stand, blickten einander an und brachen in Lachen aus.

»Da kannste getrost höher gehen«, sagte der Junge prustend. »Gennralls spaziern hier durch, das iss die wahre Pracht. Auf zwei Beinen gehnse bei ihr rein, und hinterher wernse stockbesoffen rausgetragen. So 'ne lustige Mamsell iss das!«