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Vor ihm auf dem Boden lag bäuchlings, einen Arm von sich gestreckt, die nämliche Person im karierten Jackett mit umgeschlagenen Schößen. Mysteriös! war Fandorins erster Gedanke. Er drehte den Mann auf den Rücken und sah nun das hölzerne Heft eines

Fleischermessers aus der rechten Seite ragen. Also doch nicht mysteriös. Der Spion war ermordet worden, und zwar, nach dem aus der Wunde pulsenden Blut zu urteilen, gerade eben.

Gehetzt kniff Fandorin die Augen zusammen und rannte durch alle Räume. Es herrschte Chaos: Das Unterste war zuoberst gekehrt, die Bücher waren von den Regalen geworfen, im Schlafzimmer wirbelte einem Schneesturm gleich der Flaum aus dem zerstochenen Daunenbett. Nirgends ein Mensch.

Nun sah Fandorin aus dem Fenster, das dem Flur Licht gab, und blickte auf das direkt darunter gelegene Dach eines Anbaus. Aha!

Der Detektiv sprang nach draußen und landete auf polterndem Blech. Vom Dach aus bot sich ein großartiger Blick: purpurnes Abendrot über Moskaus Kirch- und Festungstürmen, Krähenschwärme als ein schwarzes Flimmern. Doch Fandorin, zu gewöhnlichen Zeiten durchaus ein Ästhet, hatte für das wunderbare Panorama keinen Blick.

Ein seltsamer Spaß. Der Mörder war verschwunden, obwohl es von dem Dach eindeutig keine Fluchtmöglichkeit gab. Er konnte doch nicht davongeflogen sein?

Zwei Stunden später war die Wohnung in der Karetny nicht wiederzuerkennen. In den engen Zimmern tummelten sich die Kriminalbeamten, Mitarbeiter aus der Chiffrierabteilung numerierten alle vorhandenen Papiere und hefteten sie in Ordner ab, der Polizeiphotograph fertigte Aufnahmen des Leichnams aus verschiedenen Perspektiven. Die höheren Chargen - Polizeipräsident, Leiter der Geheimabteilung bei der Gouverneurskanzlei und Sonderbeauftragter - hielten sich in der Küche auf, da dort die Durchsuchung bereits abgeschlossen war.

»Was haben die Herren Ermittler vorzutragen?« fragte Churtinski, während er sich eine Prise Tabak ins Nasenloch stopfte.

»Das Bild ist eindeutig«, sagte Karatschenzew achselzuckend. »Ein vorgetäuschter Raubüberfall. Inszeniert für Idioten. Die haben hier alles verwüstet, aber nichts von Wert mitgehen lassen. Auch die Geheimsachen - Waffe, Chiffriertabelle, technische Hilfsmittel - alles noch da. Sie haben anscheinend gehofft, wir kämen nicht dahinter.«

»Happ-tschi!« nieste der Hofrat schallend, doch keiner der Anwesenden wünschte ihm Gesundheit.

Vielmehr drehte der General sich von ihm weg und sprach das Weitere in Fandorins Richtung: »Ein besonders schlagendes Detail sollte wohl die Mordwaffe sein. Das Messer stammt von da!« Er wies auf eine Hakenleiste an der Küchenwand, wo Messer verschiedener Größe hingen. Ein Haken war leer. »Es sollte aussehen, als hätte der Räuber sich das Nächstbeste gegriffen. Eine plumpe Finte, typisch deutsch. Der Stich in die Niere erfolgte in höchstem Maße professionell. Jemand hat Herrn Knabe in dem dunklen Korridor aufgelauert.«

»Nämlich wer?« fragte Churtinski, während er damit beschäftigt war, die zweite Ladung akkurat im anderen Nasenloch anzubringen.

Anscheinend war der Polizeichef zu Erklärungen nicht zu bewegen, so daß Fandorin einspringen mußte: »Wohl jemand von den eigenen Leuten. K-... Kein anderer scheint in Frage zu kommen.«

»Die Wurstmaxen haben den Schwanz eingekniffen, sie scheuen den diplomatischen Konflikt«, sagte Karatschenzew und nickte. »Der Überfall ist natürlich fingiert. Was hätte es für einen Sinn, das Deckbett aufzuschlitzen? Nein, hier sollten Spuren verwischt werden. Den eigenen Offizier abzuschlachten wie eine Sau, das ist nicht fein, meine Herren, nicht die christliche Art. Aber der Grund für die Panik ist mir klar. Denn wenn die Sache ans Licht kommt, droht nicht bloß ein Skandal, sondern Krieg. Der Hauptmann des Generalstabs, Knabe, war gar zu beflissen, hat sich zu weit vorgewagt. Allzuviel Eifer schadet. Geschieht ihm recht, dem Karrieristen. Aber wie es aussieht, meine Herren, sind wir mit unserer Arbeit fertig. Der Tod des Generals Sobolew wäre hiermit aufgeklärt. Über das weitere Vorgehen sollen sie höhererseits entscheiden. Was fangen wir mit Wanda an?« »Sie hat mit Sobolews T-... Tod nichts zu schaffen«, sagte Fandorin. »Und dafür, daß sie mit einem deutschen Spion Umgang pflegte, ist sie genug gestraft. Hätte ja b-b-... beinahe mit dem Leben bezahlt.«

»Die Sängerin lassen wir ungeschoren«, stimmte Churtinski zu. »Was da alles ans Tageslicht käme ... Das muß nicht sein.«

»Gut«, konstatierte der Polizeipräsident, der gedanklich wohl schon dabei war, seinen Abschlußbericht zu verfassen, »in zweitägiger Ermittlung ließ sich der Gang der Ereignisse lückenlos wie folgt rekonstruieren. Der deutsche Geheimdienstoffizier Knabe hatte, um sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen, auf eigene Faust beschlossen, den fähigsten Kommandoführer im russischen Militär zu beseitigen, der für seine militante Deutschenfeindlichkeit bekannt und als Führer der Russischen Nationalistischen Partei etabliert war. Als Knabe von Sobolews bevorstehender Moskaureise erfuhr, spielte er ihm eine Dame der Halbwelt zu, der er zuvor ein Fläschchen mit einem stark wirkenden Gift anvertraut hatte. Das Gift anzuwenden konnte die Dame sich nicht entschließen, oder sie kam nicht dazu. Die versiegelte Ampulle wurde ihr inzwischen abgenommen und befindet sich beim Moskauer Gendarmerieamt in Verwahrung. Der General starb eines natürlichen Todes, was Knabe jedoch nicht ahnen konnte, und er beeilte sich, die erfolgreiche Aktion nach Berlin zu melden, damit ihm die erwarteten Lorbeeren zuteil würden. Die Berliner Obrigkeit geriet ob der zu befürchtenden Folgen solch eines politischen Mordes aus dem Häuschen und beschloß, sich ihres übereifrigen Nachrichtendienstlers schnellstmöglich zu entledigen. Und so geschah es. Für diplomatische Schritte an die Adresse der deutschen Regierung besteht aus unserer Sicht kein Anlaß, zumal der Tatbestand eines Attentats ja nicht gegeben ist.« Und Karatschenzew fügte, schon nicht mehr im Berichtston, hinzu: »Eine fatale Verkettung von Umständen hat dem flotten Hauptmann das Genick gebrochen. Und nichts anderes hat der Schuft verdient.«

»Amen«, sagte Churtinski und erhob sich. »Meine Herren, Sie werden die Sache hier zu Ende bringen, erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe. Seine Durchlaucht erwarten meinen Bericht.«

Mitternacht war weit überschritten, als Fandorin im Hotel anlangte. Auf dem Gang vor seiner Zimmertür stand Masa und rührte sich nicht.

»Sie ist wieder da, Herr«, gab er lakonisch kund.

»Wer?«

»Die Frau in Schwarz. Sie ist da und will nicht gehen. Ich 55 hab extra ins Wörterbuch geschaut und gesagt, daß Ihr wer weiß wann wiederkommt. >Hell nix da. Spatel kommt!< hab ich gesagt. Aber sie sitzt und sitzt. Drei Stunden schon hockt sie da drin, und ich stehe hier.«

Fandorin schob seufzend die Tür auf und spähte hinein. Am Tisch saß, die Hände auf den Knien gefaltet, ein goldblondes Mädchen in Trauerkleid und breitkrempigem Hut mit schwarzem Flor. Man sah ihre langen, gesenkten Wimpern, die schmale, sanft gebogene Nase, das feingeschnittene Gesicht. Und jetzt, da die Unbekannte das Knarren der Tür gehört hatte und die Augen aufschlug, erstarrte Fandorin vor so viel Schönheit. Instinktiv prallte er von der Tür zurück und zischte dem Diener zu: »Hast du nicht gesagt, sie sei alt? Die ist keine fünfundzwanzig!«

»Die Frauen in Europa sehen alle alt aus«, sagte Masa. »Und ist man mit fünfundzwanzig etwa jung, Herr?«

»Und häßlich, hast du gesagt!«

»Das ist sie, die Ärmste. Gelbe Haare, lange Nase, Wasseraugen - genau wie Eure!«

»Ach so«, flüsterte Fandorin peinlich berührt. »Ich vergaß, daß du hier der einzige schöne Mensch bist.«

Und nach einem weiteren Seufzer, der aber schon aus ganz anderen Tiefen rührte, betrat er das Zimmer.

»Herr Fandorin?« fragte das Mädchen und erhob sich hastig. »Sie führen die Ermittlungen zum Tod von Michail Sobolew, nicht wahr? Ich weiß es von Gukmassow.«