an so einem Tag hat der nicht einen Schutzmann übrig. Heute abend wird aufgrund des betrüblichen Ereignisses mit Äußerungen des Volkszorns zu rechnen sein, und wenn man bedenkt, wieviel Prominenz in der Stadt ist - jeder einzelne muß vor Terroristen und
Bombenwerfern in Schutz genommen werden. Nein, gnädiger Herr, aus einer Razzia wird heute nichts, vergessen Sie das.«
»Dann entwischt er uns«, konstatierte Fandorin, und es war fast ein Stöhnen. »Dann haut er ab.«
»Höchstwahrscheinlich ist er längst weg«, bestätigte Churtinski und seufzte melancholisch. »Aber selbst wenn«, beharrte Fandorin, »die Spur ist noch frisch. Vielleicht erwischen wir ja d-... doch noch ein Fädchen, an das man anknüpfen kann.«
Hier faßte Pjotr Churtinski seinen Gesprächspartner auf taktvolle Weise beim Arm und sagte: »Sehr richtig. Noch mehr Zeit zu verlieren wäre fatal. Ich führe Moskaus Geheimgeschäfte nicht erst seit kurzem, und dieser Kleine Mischa ist mir durchaus ein Begriff. Seit geraumer Zeit versuche ich ihm auf die Schliche zu kommen, aber die Bestie ist geschickt. Und wenn ich Ihnen noch etwas sagen darf, lieber Freund«, die Stimme des Hofrats bekam einen schmeichelnden, vertraulichen Klang, seine allzeit zusammengekniffenen Augen gingen auf zu ganzer Größe und sahen plötzlich klug und hellsichtig aus, »so muß ich gestehen, daß ich von Ihnen anfangs nicht begeistert war. Nicht im mindesten. Ein Großmaul, hab ich gedacht, ein pseudoaristokratisches Musterschülerchen, das daherkommt und sich der Ernte bemächtigt, die andere mit Schweiß und Blut eingefahren haben. Aber Churtinski ist gern bereit, einen Irrtum zuzugeben. In Ihnen habe ich mich gründlich geirrt, wie die Ereignisse der letzten beiden Tage deutlich gemacht haben. Ich sehe, Sie sind ein sehr kluger und erfahrener Mann, und ein hervorragender Detektiv noch dazu.«
Fandorin tat eine leichte Verbeugung; er war gespannt, was nun folgte.
»Und darum hätte ich Ihnen einen kleinen Vorschlag zu unterbreiten. Nur für den Fall natürlich, daß Sie sich der Sache gewachsen sehen.«
Churtinski rückte dicht an ihn heran, das Weitere flüsterte er: »Hätten Sie nicht Lust, selbst einen kleinen Spaziergang durch die Kneipen der Chitrowka zu machen und Ihr Naschen in den Wind zu halten? Ich meine, nur damit der heutige Abend nicht untätig verstreicht ... Mir kam zu Ohren, daß Sie sich vorzüglich zu maskieren verstehen. So einen kleinen Strauchdieb aus sich zu machen dürfte also kein Problem für Sie sein. Ich meinerseits könnte Ihnen sagen, wo Sie am wahrscheinlichsten auf die Fährte dieses Mischa stoßen. Ich habe da meine Informationen. Und ich gebe Ihnen ein paar meiner besten Agenten als Geleitschutz. Ich hoffe, Sie sind sich nicht zu fein für diese Arbeit? Oder finden Sie es zu gefährlich?«
»Ich bin mir nicht zu fein und finde es nicht zu gefährlich«, erwiderte Fandorin, dem der »kleine Vorschlag« des Hofrats durchaus nicht dumm vorkam. In der Tat: Wenn schon keine Polizeiaktion möglich war, warum sollte er es nicht auf eigene Faust probieren? »Und wenn Sie eine heiße Spur finden sollten«, fuhr Churtinski fort, »dann ließe sich am frühen Morgen immer noch eine Razzia organisieren. Sie müßten mir nur eine Nachricht zukommen lassen. Fünfhundert Schutzleute kann ich Ihnen zwar nicht versprechen, aber so viele dürften kaum nötig sein. Sie werden die Schlinge zu dem Zeitpunkt ja schon ein wenig zugezogen haben. Schicken Sie mir einfach einen von meinen Leuten, um das übrige kümmere ich mich. Seine Exzellenz Jewgeni Karatschenzew brauchen wir für diese Sache ganz bestimmt nicht.«
Fandorin runzelte die Stirn, da der Unterton der letzten Bemerkung schon wieder an die Moskauer Rankünen gemahnte, die ihn in diesem Moment am allerwenigsten interessierten.
»Ich d-... danke Ihnen für die angebotene Hilfe, aber ich werde Ihre Leute nicht brauchen«, sagte er. »Ich bin es gewohnt, allein vorzugehen. Außerdem habe ich einen sehr verläßlichen Gehilfen.«
»Etwa diesen Japaner?« Churtinski schien bestens unterrichtet zu sein. Aber das war ja nun einmal sein Beruf.
»Ja. Er reicht mir v-v-... vollkommen aus. Von Ihnen müßte ich nur noch wissen, wo ich den Kleinen Mischa am besten suchen soll.«
Der Hofrat bekreuzigte sich fromm, da über ihnen die Glocke zu schlagen anfing.
»Es gibt in der Chitrowka ein besonders verrufenes Örtchen: die Kneipe >Zur Galeere<. Tagsüber ein gewöhnliches mieses Bierlokal, nachts treffen sich dort die Füchse, wie man in Moskau zu den Banditen sagt. Der Kleine Mischa läßt sich dort des öfteren sehen. Taucht er nicht selber auf, treffen Sie unter Garantie einen von seinen Halsabschneidern an. Auch auf den Wirt sollten Sie ein Auge werfen, er ist ein ausgemachter Hundsfott. Im übrigen finde ich es nicht gut, daß Sie auf meine Agenten verzichten wollen.«
Churtinski wiegte tadelnd den Kopf.
»Das ist eine gefährliche Gegend. Es handelt sich um die Chitrowka, nicht um die mysteres de Paris. So schnell, wie da ein Messer aufklappt, können Sie gar nicht gucken. Wenigstens bis zur >Galeere< sollten Sie sich bringen lassen, und eine Wache vor der Tür wäre auch nicht schlecht. Kommen Sie, seien Sie nicht halsstarrig.«
»Wirklich nicht nötig, ergebensten Dank. Ich k-k-... komme klar«, erwiderte Fandorin stolz. 72
ACHTES KAPITEL,
in welchem die Katastrophe eintritt
»Nastassja, sag mal, was brüllst du wie angestochen?« fragte Xaveri Gruschin wütend und schaute in die Diele hinaus.
Die Köchin war eine dumme Trine, die ihre Zunge nicht im Zaum halten konnte und ihrem Herrn gegenüber unmanierlich war. Wenn Gruschin sie dennoch bei sich hielt, so aus purer Gewohnheit und weil das Trampel vorzügliche Leber- und Rhabarberpasteten backen konnte. Ihr deftiges Organ jedenfalls, von dem Nastassja im Zank mit der Nachbarin Glaschka, dem Schutzmann Silytsch und lästigen Almosensammlern ordentlich Gebrauch machte, vergällte Gruschin des öfteren die Lektüre der »Moskauer Polizeinachrichten«, seine philosophischen Reflexionen und selbst das süße Nachmittagsschläfchen.
Heute also schlug das verfluchte Weib wieder einen solchen Heidenlärm, daß Gruschin sich gezwungen sah, aus seinem wohligen Schlummer hervorzutauchen. Was um so bedauerlicher war, da er geträumt hatte, kein Polizist im Ruhestand, sondern ein Kohlkopf im Garten zu sein. Der reckte und räkelte sich fröhlich in seinem Beet, und neben ihm saß ein Rabe und pickte ihn an die linke Schläfe, was indes überhaupt nicht weh tat, im Gegenteil, es war sanft und angenehm. Man mußte nirgendwohin gehen, hatte es nicht eilig und brauchte sich über nichts aufzuregen. Die reinste Seligkeit. Dann aber fing der Rabe an, verrückt zu spielen, sein Picken war kein Spaß mehr, sondern so heftig und gemein, daß es knackte, dazu noch sein ohrenbetäubendes Gekrächze - bis Gruschin von Nastassjas Schimpfen endlich aufwachte und Kopfweh hatte.
»Bist wohl noch nicht krumm genug, daß ich dir eins mit dem Feuerhaken überziehen soll?« gellte die Stimme der Köchin durch die Wand. »Und du, Gottloser, was blinzelst du so? Gleich kriegst du meinen Lappen in deine Ölgötzenfresse!«
Gruschin vernahm die Philippika und horchte auf. Wer war noch nicht krumm genug? Und Ölgötzenfresse? Ächzend erhob er sich, um für Ordnung zu sorgen.
Der Sinn von Nastassjas rätselhafter Ausdrucksweise klärte sich, da Gruschin auf die Vortreppe hinaussah.
Natürlich waren es wieder Bettler. Ihresgleichen zog den lieben langen Tag die Gassen der Vorstadt auf und ab, wo die Bewohner ein weites Herz hatten. Der eine der beiden, alt und in der Tat krumm wie ein Flitzbogen, stand auf zwei kurze Krücken gestützt. Der andere ein dreckstarrender Kirgise in schmierigem Kittel und abgerissener Pelzmütze. Meine Herren, wen es nicht alles zu Moskaus Toren hereinspülte!