Выбрать главу

»Genug, Nastassja, ich werd noch taub von deinem Gebrüll!« rief Gruschin die Zanknudel zur Ordnung. »Gib jedem eine Kopeke, damit sie sich trollen!«

»Die behaupten, zu Ihnen zu wollen!« fuhr die wütende Köchin herum. »Der da«, sie deutete auf den Buckligen, »meint, er hätte was mit dem Herrn zu bereden. Weck ihn! spricht er. Ich werd dir was und wecken! sag ich. Übergeschnappt, oder wie? Die Leute nicht schlafen zu lassen!«

Gruschin sah sich die Gesellen aufmerksamer an. Moment mal! Den Kirgisen kannte er doch? Und es war gar kein Kirgise. Der Inspektor griff sich unwillkürlich ans Herz.

»Ist was mit Fandorin? Wo ist er?« Ach, der verstand ja kein Russisch.

»Kommst du von Fandorin, Alter?« beugte Gruschin sich zu dem Buckligen hinunter. »Ist irgendwas passiert?«

Der Invalide richtete sich auf und war nun einen halben Kopf größer als der Kriminalamtsleiter a. D.

»Fein, Xaveri! Wenn Sie mich nicht erkannt haben, ist die Verkleidung gelungen!« sagte er mit Erast Fandorins Stimme.

Gruschin war verzückt.

»Ja, sag einer! Nicht zu erkennen! Ein Bubenstreich! Ohne Ihren Diener wäre ich nie auch nur auf den Gedanken gekommen! Aber ist es nicht ermüdend, die ganze Zeit so gebückt herumzulaufen?«

»Macht nichts.« Fandorin winkte ab. »Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden. Das gehört zu den Genüssen des Lebens.«

»In dem Punkt würde ich Ihnen gern widersprechen«, sagte Gruschin, während er die Gäste ins Haus ließ. »Aber natürlich nicht heute, das können wir ein andermal beim Tee diskutieren. Heute soll es auf Expedition gehen, wenn ich recht sehe?«

»Ja. Ich möchte einen Abstecher zur Chitrowka machen, genauer gesagt, in ein G-... Gasthaus mit dem romantischen Namen >Zur Galeere<. Dort soll der Kleine Mischa sozusagen sein Stabsquartier haben.«

»Wer sagt das?«

»Pjotr Churtinski, Vorsteher der geheimdienstlichen Abteilung bei der Kanzlei des Generalgouverneurs.« Gruschin hob nur die Hände.

»Na, dann will man es beinahe glauben. Der hat seine Augen und Ohren überall. In die >Galeere< zieht es Sie also?«

»Jawohl. Erzählen Sie doch mal! Was das für ein Gasthaus ist, was dort für Sitten herrschen und vor allem, wie man hinfindet.«

»Nehmen Sie Platz, mein Bester. Nein, nicht in den Sessel, besser dort auf die Holzbank. In Ihrem Aufzug!«

Gruschin nahm den Sessel in Beschlag und rauchte sein Pfeifchen an.

»Dann mal schön der Reihe nach. Zur ersten Frage: Was ist das für ein Gasthaus? Die Antwort lautet: ein Besitztum des Wirklichen Staatsrats Jeropkin.«

»Ach was?« Fandorin war verblüfft. »Und ich dachte, es wäre eine Spelunke, ein D-... Diebesloch.«

»Damit liegen Sie nicht falsch. Aber das Haus gehört dem General und wirft Seiner Exzellenz ein beträchtliches Sümmchen ab. Der General verkehrt dort natürlich nicht persönlich, er hat es vermietet. Jeropkin nennt in Moskau etliche solcher Etablissements sein eigen. Geld stinkt nicht, wie man weiß. Oben im Haus haben ein paar feile Freudenmädchen ihre Zimmer, und im Keller ist das Lokal. Aber der springende Punkt an dem Generalshaus liegt woanders. Zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen waren an der Stelle nämlich Kasematten mit Folterkammern gelegen. Die sind längst geschleift, aber das Kellerlabyrinth ist noch da. Und in den letzten dreihundert Jahren ist noch manch neuer Gang gegraben worden, da kann selbst der Leibhaftige sich das Bein brechen. Nun geh da mal rein und such den Kleinen Mischa ... Kommen wir zur Frage Nummer zwei: Was herrschen dort für Sitten?«

Gruschin schmatzte behaglich. Lange hatte er sich nicht mehr so prächtig gefühlt. Der Kopfschmerz war wie weggeblasen.

»Die Sitten sind rauh. Räubersitten. Gesetz und Polizei bleiben außen vor. Nur zwei Varietäten des Menschen haben in der Chitrowka Überlebenschancen: Wer sich dem Starken beugt und wer den Schwachen knechtet. Einen Mittelweg gibt es nicht. Und die >Galeere< ist für sie wie der Nabel der Welt: Dort wird mit Diebesgut gehehlt, üppige Gelder gehen übern Tisch, und alles, was in der Banditenwelt Rang und Namen hat, gibt sich die Klinke in die Hand. Churtinski hat recht, über die >Galeere< ließe der Kleine Mischa sich auftreiben. Die Frage ist nur, wie. Mit dem Kopf durch die Wand geht es nicht.«

»Die d-d-... dritte Frage lautete anders«, wurde Gruschin von Fandorin höflich, aber bestimmt korrigiert. »Wie findet man die >Galeere<?«

»Das sage ich Ihnen nicht!« Lächelnd ließ Gruschin sich in seinen Sessel zurückfallen. »Wieso nicht?«

»Weil ich Sie persönlich hinbringe. Keine Widerrede! Dafür bin ich taub.«

Gruschin hatte Fandorins abwehrende Geste gesehen und tat, als hielte er sich die Ohren zu.

»Erstens finden Sie ohne mich sowieso nicht hin. Und wenn, kommen Sie zweitens nicht rein. Na, und falls doch, kommen Sie lebend nicht wieder raus.«

Und da er sah, daß seine Argumente bei Fandorin nicht fruchteten, setzte er flehend hinzu: »Versagen Sie's mir nicht, mein Lieber, ich bitte Sie! Aus alter Verbundenheit! Haben Sie Erbarmen mit dem alten Eisen, das in Untätigkeit vor sich hin rostet. Wir könnten zu zweit was Feines erleben!«

»Das geht doch nicht, Xaveri!« sagte Fandorin sanft und geduldig wie zu einem kleinen Kind, »in der Chitrowka kennt Sie doch immer noch jeder Hund.«

Gruschin lächelte schlau.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Sie glauben wohl, Sie wären der einzige Verwandlungskünstler auf Erden?« Und es entspann sich ein langer, aufreibender Streit.

Es dunkelte schon, als sie sich Jeropkins Haus näherten. Nie zuvor war Fandorin nach Einbruch der Nacht in diesem traurig berühmten Stadtviertel gewesen. Die Gegend war wirklich zum Fürchten, eine Art Totenreich, wo keine lebenden Menschen, sondern Schatten wohnten. In den winkligen Gassen brannte nicht eine Laterne, die unansehnlichen Hüttchen standen schief und krumm, von den Kehrichthaufen ging Gestank aus. Keiner ging hier normaclass="underline" Man schlich, schnürte, schlurfte an der Wand entlang, hie und da löste sich ein grauer Schatten aus einem Hausflur oder einer leicht zu übersehenden Tür, witterte nach allen Seiten, huschte über die Straße, um wieder in irgendeinem Spalt zu verschwinden. Ein Rattenland! dachte Fandorin, während er auf seinen Krücken voranhumpelte. Nur war man es von den Ratten nicht gewohnt, daß sie Sauflieder grölten, sich die Seele aus dem Hals brüllten, heulten und fluchten oder den Entgegenkommenden mit knurrend vorgebrachten Verwünschungen schreckten.

»Dort vorn, das ist die >Galeere<!«

Gruschin deutete auf ein düsteres zweistöckiges Haus mit gruselig fahl erleuchteten Fensterchen und bekreuzigte sich.

»Lieber Gott, laß uns gut fischen und mit heiler Haut entwischen!«

Sie betraten das Haus, so wie es abgemacht war: Gruschin und Masa als erste, Fandorin kurz darauf. Das war die Bedingung, die der Kollegienassessor gestellt hatte.

»Lassen Sie sich nicht davon irritieren, daß mein Japaner kein Russisch redet«, erläuterte Fandorin. »Er hat oft genug in der Klemme gesessen und kann die Gefahr riechen. Früher ist er bei den Yakuza gewesen, das sind so japanische Banditen. Seine Reaktionsschnelligkeit ist phänomenal, und mit dem Messer weiß er umzugehen wie P-... Professor Pirogow mit dem Skalpell. Masa hält Ihnen den Rücken frei. Und zu dritt fallen wir bloß auf - das riecht nach Verhaftungsk-... -kommando.«

Gruschin sah es halbwegs ein.

In der »Galeere« war es schummerig, denn hier verkehrte ein lichtscheues Gesindel. Auf dem Tresen stand eine Petroleumlampe, unter der man Geld zählen konnte, und auf jedem der grobgezimmerten Holztische ein dickes Talglicht. Wenn das Flämmchen flackerte, tanzten die verzerrten Schatten an den niedrigen Deckenbögen. Doch dem geübten Auge war das Dämmerlicht kein Hindernis. Saß man ein Weilchen und gewöhnte sich ein, sah man alles, was man sehen mußte. Dort hinten in der Ecke zum Beispiel, an dem üppig gedeckten Tisch (sogar ein Tischtuch war aufgelegt!) saßen die »Füchse« in wortkarger Runde. Getrunken wurde in Maßen, gegessen noch weniger. Kurze Bemerkungen wurden gewechselt, die ein Außenstehender nicht verstand. Kein Zweifel, die bösen Brüder warteten auf etwas. Vielleicht stand ein »Geschäft« an, oder eine ernste Unterredung war angesetzt. Das übrige Publikum war nicht der Rede wert: ein paar leichte Mädchen, ein paar besoffene Wracks und ein paar Taschendiebe nebst »Anreißern« als die unvermeidlichen Stammgäste. Letztere waren dabei, »Kasse zu machen«, das heißt, sie teilten die Tageseinnahmen - was so aussah, daß man einander beim Kragen gepackt hielt und haarklein vorrechnete, wer wieviel eingenommen hatte und was wem zustand. Einer lag