Выбрать главу

»Und die erste Kugel ist für dich, du Schuft!« brüllte Fandorin den Tataren an. »Dazu brauche ich keinen Richter, das erledige ich jetzt und sof...«

Er kam mit seiner Ankündigung nicht zum Ende. Lautlos wie eine Katze war die Zigeunerin aufgesprungen und hieb ihm von hinten eine Flasche an den Schädel. Was Fandorin nicht sehen konnte. Plötzlich und grundlos wurde die Welt für ihn schwarz.

NEUNTES KAPITEL,

in welchem auf Fandorin neue Erschütterungen zukommen

Nur allmählich kam Fandorin zu sich, das heißt, die Sinne kehrten nacheinander wieder. Als erstes setzte der Geruch ein. Es roch säuerlich, nach Staub und Schießpulver. Dann meldete sich der Tastsinn zurück: Die Wange spürte eine rauhe, hölzerne Unterlage, die Handwurzeln juckten. Im Mund ein salziger Geschmack - das konnte nur Blut sein. Zuletzt hörte und sah er wieder, und der Verstand begann zu arbeiten.

Fandorin begriff, daß er bäuchlings am Boden lag, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Durch das halbgeöffnete Auge sah er vor sich einen bespuckten Dielenboden, eine flitzende rote Kakerlake und mehrere Paar Stiefel. Eines davon waren Modestiefel aus Chromleder, mit silbernen Spitzenbeschlägen und merkwürdig klein, wie von einem Halbwüchsigen. Und dann erblickte Fandorin ein Stück weiter entfernt, hinter den Stiefeln, etwas Furchtbares, wodurch ihm mit einem Schlag alles wieder einfieclass="underline" Xaveri Gruschins totes Auge schaute ihn an. Der alte Kriminalpolizist lag gleichfalls am Boden, sein Gesicht wirkte verdrossen, sogar wütend, so als wollte es sagen: »Was für ein dämliches Possenspiel!« Daneben zeichnete sich Masas dunkler Hinterkopf ab, blutüberströmt. Fandorin kniff die Augen zu. Er wollte zurück in die Schwärze, nichts weiter sehen und hören müssen. Doch die scharfen, sich schmerzhaft ins Hirn schneidenden Stimmen erlaubten es nicht.

»Mensch, Abdul, du bist 'n Filou!« frohlockte jemand mit näselnder Syphilisstimme. »Wie der so klipp zu kacheln anfing, dacht ich, nee, das isser nich, aber Abdul, zack! mit dem Boller!«

Eine bedächtige Stimme brummte, auf Tatarenart die Endungen verschluckend: »Isser nich ... Hast kein Aug im Kopf? Hat geheiß: Wer mit Schlitzaug kommt, mit Chines, isses.«

»Iss doch aber kein Chinese, iss 'n Kirgise.« »Selb einer! Schlitzaug lauf ja hundert in Chitrowka rum, wie? Und wenn's falsch gewes, auch nich schlimm. Leich in Fluß und Sens.«

»Die Fiska, ich fasses nich!« sprach eine dritte Stimme, herrisch, doch mit hysterischem Unterton. »War sie nich, der Alte hätt uns alle weggeputzt. Hieß es nich, es kämen zwei oder was, Mischa? Aber dann warn's drei, siehste. Den Trumm hat er umgelegt. Den Trumm, Mischa! Der kommt nich durch.«

Wie Fandorin den Namen Mischa hörte, wollte er doch nicht mehr in sein schwarzes Loch zurücktauchen. Von dem Schlag schmerzte der Kopf; Fandorin nahm den Schmerz und trieb ihn in das Loch, aus dem er eben hervorgetaucht war. Es gab Ärgeres als den Schmerz.

»Eigentlich gehörte dir eins mit der Peitsche übergezogen, Fiska, dafür, daß du so viel säufst«, versetzte eine Falsettstimme matt und schaukelnd. »Aber zur Feier des Tages vergebe ich dir. Hast es dem Spitzel fein gegeben.«

Zwei rote Saffianstiefelchen kamen näher und stellten sich vor dem Chromleder auf.

»Von mir aus mit der Peitsche, Mischenka«, ließ eine volltönende, rauchige Frauenstimme sich hören. »Aber schick mich nicht weg. Drei Tage hab ich dich nicht gesehn, mein 79

Falke. Hab mich verzehrt vor Sehnsucht. Laß dich bei mir sehn heute, ich besorg's dir.« »Das verschieben wir auf später.« Die Chromledernen taten einen Schritt auf Fandorin zu. »Erst mal schauen wir, was für ein Vögelchen sich hier reinverirrt hat. Dreh ihn um, Schucha. Ach, sieh an, er blinzelt ja schon.«

Fandorin wurde auf den Rücken gewälzt.

So also sah er aus, der Kleine Mischa. Der Zigeunerin reichte er gerade bis zur Schulter, von den anderen Füchsen ganz zu schweigen. Schmales, angespanntes Gesicht, ein Mundwinkel zitternd. Ungute Augen: als schaute ein Fisch und kein Mensch. Ansonsten kein Scheusal, äußerlich gesehen. Die Haare, in der Mitte schnurgerade gescheitelt, kringelten sich an den Enden. Ein peinliches Detaiclass="underline" Das schwarze Schnurrbärtchen glich dem von Fandorin aufs Haar, zumal es auf gleiche Weise gezwirbelt war. Sogleich schwor sich Fandorin, nie wieder Pomade zu verwenden. Der nächste Gedanke aber war, daß er sowieso kaum mehr Gelegenheit dazu haben würde.

In der einen Hand hielt der Banditenkönig den Herstal, in der anderen das Stilett, das Fandorin am Knöchel getragen hatte. Sie hatten ihn also schon durchsucht.

»Na, was bist du für einer?« fragte der Kleine Mischa durch die Zähne gepreßt. Von unten gesehen, erschien er gar nicht so klein, im Gegenteiclass="underline" ein Gulliver. »Von welchem Revier? Mjasnizkaja, nehm ich an? Bestimmt von da. Alle meine Häscher glucken dort zusammen, die unersättlichen Vampire.«

Fandorin wunderte sich. Häscher, Vampire? Das hieß wohl, daß die Beamten in der Mjasnizkaja nicht bestechlich waren. Eine nützliche Information. Falls sie noch jemandem nützlich werden konnte, verstand sich.

»Wieso seid ihr zu dritt gekommen?« stellte Mischa eine 79

etwas rätselhafte Frage. »Oder habt ihr gar nichts miteinander zu tun?«

Fandorin fühlte sich versucht zu nicken, doch er beschloß, daß es klüger war nicht zu reagieren. Und abzuwarten, was kam.

Was kam, war ekelhaft. Mischa holte kurz aus und trat dem Liegenden in den Bauch. Fandorin aber, während er den Fuß auf sich zukommen sah, fand Zeit, sich zu rüsten. Er stellte sich vor, in ein Eisloch zu springen. Das höllisch kalte Wasser brannte so, daß der Tritt mit der beschlagenen Stiefelspitze vergleichsweise harmlos ausfiel. Fandorin stöhnte nicht einmal.

»Hart im Nehmen, der Alte!« staunte Mischa. »Mit dem werden wir uns schön plagen müssen. Na, macht nichts, davon wird es nur interessanter. Zeit haben wir ja genug. Kippt ihn erst mal in den Keller, Kinder. Wir schmausen, was der Herrgott gegeben hat, und amüsieren uns ein bißchen. Hoch die Hufe, hoch die Tassen. Hinterher kühlt mir Fiska das Mütchen.«

Unter dem schrillen Gelächter der Frau wurde der Detektiv an den Beinen über die Dielen geschleift, bis hinter den Tresen und von da einen dunklen Gang entlang. Eine Falltür knarrte, im nächsten Moment flog Fandorin schon und knallte in völliger Finsternis auf. Er sortierte sich: Schulter und Hüfte geprellt, aber die Knochen anscheinend heil geblieben. »Da hast du deine Stelzen, Krummhahn!« grölte es von oben. »Geh ein bißchen Almosen sammeln!«

Nacheinander fielen die beiden kurzen Krücken auf ihn herab.

Dann verschwand über ihm krachend das matte Quadrat, und Fandorin schloß die Augen, weil es ohnehin nichts mehr zu sehen gab.

Er knickte die Hände und betastete mit den Fingern die Fesseln, die seine Gelenke zusammenhielten. Simpler Strick - nicht der Rede wert. Eine halbwegs harte und nach Möglichkeit gerippte Fläche genügte, wenn man noch etwas Geduld hinzunahm. Was hatten wir zum Beispiel hier? Aha, die Stiege, gegen die er eben geprallt war. Fandorin drehte ihr den Rücken zu und machte sich daran, das Seil in schnellen, rhythmischen Bewegungen an dem hölzernen Pfosten zu reiben. Damit würde er wohl eine runde halbe Stunde zu tun haben.

Und Fandorin fing an, bis eintausendachthundert zu zählen. Nicht um sich die Zeit zu verkürzen, sondern um nicht an das Furchtbare denken zu müssen. Nur leider konnte das Zählen nicht verhindern, daß die schwarzen Gedanken nadelspitz in das arme Herz des Detektivs drangen.

Was haben Sie angerichtet, Herr Fandorin! Es ist unverzeihlich und nie wieder gutzumachen.

Wie konnte er bloß seinen alten Lehrer in diese Raubtierhöhle hineinzerren! Der gute Xaveri hatte seinem jungen Freund geglaubt, sich gefreut, auf seine alten Tage dem Vaterland zu Diensten zu sein - und was war dabei herausgekommen! Nicht der Zufall war schuld, nicht das böse Verhängnis, sondern die Fahrlässigkeit, der mangelnde Sachverstand dessen, dem der Kriminalamtsleiter a. D. blind vertraut hatte. Denn die Schakale der Chitrowka hatten Fandorin aufgelauert. Genauer gesagt, nicht Fandorin, sondern dem, der mit dem »Chinesen« kommen würde. Ans Messer geliefert hatte der täppische Detektiv seine Getreuen. Und dabei war er von Gruschin gewarnt worden: Der Kleine Mischa hielt die gesamte Polizei an der Leine. Dieser unsympathische Churtinski hatte vor irgendeinem seiner Leute etwas verlauten lassen, und der hatte es der Chitrowka brühwarm hinterbracht. Nichts einfacher als das. Selbst wenn sich nun nachträglich klären ließ, welchen Judas sie dort in der Geheimabteilung sitzen hatten - davon wurden Masa und Gruschin nicht wieder lebendig. Eine unverzeihliche Dummheit. Nein, keine Dummheit, ein Verbrechen!