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Fandorin in seiner Seelenpein stöhnte und arbeitete mit den Händen nur noch heftiger, so daß das Seil schneller als erwartet rutschte und nachließ. Fandorin konnte sich darüber nicht freuen. Er konnte die frei gewordenen Hände nur vor das Gesicht schlagen und weinen. Ach, Masa, mein Masa ...

Vier Jahre war es her, daß Fandorin, damals zweiter Sekretär an der russischen Botschaft, dem jungen Yakuza-Kämpfer in Yokohama das Leben gerettet hatte. Seither war Masahiro ihm ein treuer, ach was, der einzige Freund und hatte dem auf Abenteuer versessenen Diplomaten mehr als einmal aus der Patsche geholfen, ohne seine Schuld beglichen zu sehen. Wozu, werter Herr Fandorin, verschleppten Sie diesen netten Japaner in die Fremde? Damit ihm hier - durch Ihre Schuld! - ein übler Halunke den Schädel einschlug? Bitter, unaussprechlich bitter war es Fandorin ums Gemüt, und wenn ihn etwas daran hinderte, sich an der schlierigen Kellerwand den Kopf einzurennen, dann war es das süße Vorgefühl der Rache. Oh, wie gnadenlos würde er an den Mördern Rache üben! Xaveri Gruschin als frommem Christenmenschen mochte das gleich sein, doch Masas Japanerseele in Erwartung der Wiedergeburt würde jauchzen!

Um sein eigenes Leben fürchtete Fandorin längst nicht mehr. Der Kleine Mischa hatte eine gute Chance gehabt, dem Detektiv den Garaus zu machen - oben, als er ihm betäubt, gefesselt und waffenlos zu Füßen lag. Nun aber, mit Verlaub, Eure Majestät, Herr Banditenkönig, würde eine andere Farbe ausgespielt werden.

Am Hals des buckligen Bettlers, der er bis vorhin gewesen war, hingen nämlich immer noch das Kupferkreuz und die eigentümlichen Blechsterne. Außerdem hatten die Tölpel ihm die Krücken in die Grube nachgeworfen und damit ein Geschenk gemacht. Denn so war eine komplette japanische Waffenkammer in seiner Hand.

Er nahm das Gehänge ab und zerlegte es in einzelne Sterne. Dabei befühlte er die Schärfe ihrer Kanten: die reinsten Rasiermesser. Diese Sterne hießen eigentlich Shuriken, und die Kunst, sie aus der trockenen Hand zu werfen, zählte zu den Grundübungen, die ein Ninja zu beherrschen hatte. Im Ernstfall wurden die Kanten mit Gift eingerieben, doch Fandorin hoffte, daß sie auch so ihren Zweck erfüllten. Nun mußte nur noch das Nunchaku montiert werden: eine Waffe, die furchtbarer ist als jeder Säbel.

Fandorin nahm also als nächstes das an der Kette hängende Kreuz vom Hals. Letzteres legte er beiseite; die Kette zerriß er und befestigte an den beiden Enden je eine der Krücken. Eigens dafür waren oben an den Stelzen Häkchen angebracht. Probehalber ließ er, ohne sich vom Erdboden zu erheben, sein Nunchaku in einer pfeifenden Acht über dem Kopf kreisen und war sehr zufrieden damit. Das Mahl war bereitet, die Gäste durften erscheinen.

Die Sprossen im Dunkeln ertastend, kletterte Fandorin die Stiege hinauf. Er stemmte den Kopf gegen die Luke - sie war von außen versperrt. Auch gut. Fandorin konnte warten. Der Hafer läuft nicht zum Pferd, wie der Russe sagt.

Er sprang wieder hinunter, ging auf alle viere und fuhr mit den Händen suchend über den Boden. Bald schon stieß er gegen einen schlaffen, mürben Bastsack, von dem ein unerträglicher Schimmelgeruch ausging. Fandorin war nicht wählerisch und nahm den Sack als Kopfkissen.

Es war sehr still - abgesehen von ein paar emsigen Tierchen, die sich raschelnd bemerkbar machten: Mäuse vielleicht, oder auch Ratten. Von mir aus! dachte Fandorin und merkte nicht, wie er in den Schlaf sank - letzte Nacht hatte er kein Auge zugetan.

Er schrak auf, als die Falltür sich knarrend öffnete, und wußte augenblicklich, wo er war und warum. Er hätte nur nicht sagen können, wieviel Zeit vergangen war.

Ein Mann in Überzieher und Juchtenstiefeln kam schwankend die Stiege herab, in der Hand eine Kerze. Fandorin erkannte einen von Mischas »Füchsen«. Hinter ihm erschienen die silberbeschlagenen Chromlederstiefel in der Luke.

Zu fünft kamen sie Fandorin besuchen: der Kleine Mischa und die vier aus der Tischrunde. Nur Abdul fehlte, das Erlebnis vollkommen zu machen, was Fandorin ein bißchen ärgerte - und ihm gar einen Seufzer entlockte.

»Ja, seufz du nur, Spitzelchen!« sagte Mischa grienend und entblößte dabei seine blendend weißen Zähne. »Gleich wirst du mir brüllen, daß die Ratten sich in den Löchern verstecken. Was hast du denn mit der Leiche, poussiert ihr ein bißchen? Recht so! Bald bist du selber eine.«

Fandorin sah nach dem vermeintlichen Sack, der ihm als Kissen diente, und fuhr entsetzt hoch. Aus leeren Augenhöhlen starrte ihn ein fast ganz verwester Toter an. Die »Füchse« johlten. Alle außer Mischa hatten eine Kerze dabei, einer noch dazu eine Handvoll Klammern oder Zangen.

»Ist was?« erkundigte sich der kleine Mann höhnisch. »Vorigen Herbst ist uns schon ein Spitzel ins Netz gegangen, auch von der Mjasnizkaja. Kennt ihr euch?« Wieder Gelächter, während Mischas Stimme nun sanft und dickflüssig wie Sirup wurde. »Hat sich lange gequält, das Herzchen. Wie wir 82

ihm die Därme aus dem Wanst gezogen haben, hat er nach Papa und Mama geschrien.« Fandorin hätte den Kleinen Mischa in dieser Sekunde töten können; in jeder seiner hinter dem Rücken verborgenen Hände steckte ein Shuriken. Sich von unvernünftigen Emotionen hinreißen zu lassen ist eines vornehmen Mannes jedoch nicht würdig. Mit Mischa mußte ein Wörtchen geredet werden. Es gab einen »Stapel Fragen« an ihn, wie der Konsul von Yokohama, Alexander Pelikan, zu sagen pflegte. Genausogut hätte er erst einmal die Suite Seiner Majestät, König der Chitrowka, unschädlich machen können. Sie standen gerade äußerst günstig: zwei rechts, zwei links. Eine Schußwaffe war bei keinem zu entdecken, nur Mischa spielte unentwegt mit Fandorins gutem alten Herstal herum. Und das war nicht weiter schlimm - den Knopf kannte er gewiß nicht, und solange die Sicherung nicht entriegelt war, ging die Waffe nicht los.

Nein, das Beste war es wohl zu versuchen, dem Kleinen Mischa etwas zu entlocken, solange er sich obenauf fühlte. Denn ob er hinterher noch Lust haben würde zu reden, war fraglich. Ein halsstarriger Typ, allem Anschein nach. Wie lange würde es dauern, bis er ihn weich hatte?

»Das Portefeuillechen vermiß ich, Meister Mischa. Mit den Penunzen drin, den Riesenscheinchen!« gurrte Fandorin nun wieder mit der Stimme des buckligen Pechvogels. »Wo hast du's versteckt, sag schon!«

Mischas Gesichtsausdruck veränderte sich jäh, während einer seiner Untergebenen - der näselnde - aufgeregt fragte: »Was will er? Wieso Penunzen? Wovon redet der?«

»Der Spitzelhund will uns nur äppeln!« fauchte der »König«. »Einen Keil zwischen uns treiben. Warte nur, Schuft, gleich spuckst du Blut!«

Der Kleine zog ein langes, dünnes Messer aus dem Stiefel und tat einen Schritt nach vorn. Derweil zog Fandorin seine Schlüsse. Das Portefeuille war bei Mischa - Punkt eins. Die Bande wußte nichts davon, das hieß, er gedachte die Beute ganz für sich zu behalten - Punkt zwei. Jetzt fürchtete er bloßgestellt zu werden und wollte dem Gefangenen rasch das Maul stopfen, am besten ein für allemal - Punkt drei. Fandorin mußte seine Taktik ändern. »He-he! Immer mit der Ruhe fährt der Pastor in die Schuhe!« sprudelte er hervor. »Stockig macht bockig. Lieb mich, dann red ich.«