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Mischa nahm einen Wandteppich ab, worauf der Kosakenführer Stepan Rasin mit der geretteten Prinzessin zu sehen war, öffnete eine Klappe und wühlte in der dahinterliegenden Nische. Fandorin stand da, den kalten Schweiß auf der Stirn, und konnte das Unerhörte nicht fassen.

»Keiner würde dasein, auch keiner dazukommen« - das sollte Churtinski seinem Spießgesellen gesagt haben? Demnach hatte der Hofrat gewußt, daß Sobolew nicht lebend ins »Dusseaux« zurückkehren würde?

Im übrigen hatte Fandorin den Regenten der Chitrowka unterschätzt. Mischa war nicht von Pappe, nicht der Schlappschwanz, den er bis hierhin markiert hatte. Ein Blick über die Schulter genügte ihm, seine Erwartungen bestätigt zu sehen: Der Detektiv, verblüfft von den Neuigkeiten und unaufmerksam, hatte die Pistole sinken lassen. Der flinke kleine Mann fuhr herum, und Fandorin blickte in die Mündung eines Stutzens, den er gerade noch nach oben wegzuschlagen vermochte. Der Lauf spuckte Blitz und Donner, ein heißer Wind schlug Fandorin ins Gesicht. Von der Decke bröckelte Putz. Währenddessen hatte Fandorin instinktiv den Sicherungsknopf gedrückt. Folgsam ging der entsicherte Herstal los. Der Kleine Mischa faßte sich mit beiden Händen an den Bauch und ging leise aufstöhnend zu Boden. Fandorin blickte sich nach Fiska um, ihm war die Flasche eingefallen. Doch Fiska hob auf den Knall hin nicht einmal den Kopf, zog sich nur das Kissen aufs Ohr.

Mischas überraschende Gefügigkeit bedurfte nun keiner Erklärung mehr. Er hatte ein kluges Spiel gespielt, den Argwohn seines Gegners eingeschläfert und ihn dorthin gelockt, wo er ihn haben wollte. Mit Fandorins Reaktionsschnelligkeit, die selbst bei dessen Ninja-Lehrern legendär gewesen war, hatte er nicht rechnen können.

War denn das Portefeuille wirklich da? Fandorin schob den zuckenden Körper mit dem Fuß zur Seite und schob die Hand in die Nische. Die Finger rührten an eine bauchige lederne Oberfläche. Es war da!

Fandorin beugte sich über Mischa. Dessen Blick flackerte, krampfhaft leckte er sich die bleich gewordenen Lippen. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Zum Doktor!« stöhnte der Leidende. »Ich sage alles ... alles!«

Die Verwundung schien schwer zu sein. Doch war der Herstal von so kleinem Kaliber, daß Mischa Chancen hatte zu überleben, wenn man ihn schnell ins Krankenhaus brachte. Und überleben sollte er - ein so wichtiger Zeuge!

»Warte hier, rühr dich nicht!« befahl Fandorin laut. »Ich schaffe einen Kutscher herbei. Und wage ja nicht wegzukriechen - das treibt dir die letzten Lebenskräfte aus dem Leib!« Der Schankraum hatte sich geleert. Durch die trüben Fensterluken drang schütteres Morgenlicht herein. Mitten auf dem dreckigen Fußboden wälzten sich engumschlungen ein Mann und ein Weib. Der Saum ihres Kleides war zerrissen. Fandorin wandte sich ab. Ansonsten schien keiner dazusein. Oder doch: Auf einer Bank in der Ecke schlief der Blinde von gestern abend - Schultersack unterm Kopf, Blindenstock auf der Erde. Abdul, der Wirt - derjenige, den wiederzusehen Fandorin am allermeisten begehrte - war nicht zu sehen. Doch halt! Nebenan schnarchte jemand.

Behutsam zog Fandorin den Kattunvorhang zurück, und ein Stein fiel ihm vom Herzen: Da lag das Scheusal. Hingestreckt auf einer Truhe, der Bart gesträubt, der dicklippige Mund halb offen.

Kurzerhand schob der Detektiv ihm den Lauf seiner Waffe zwischen die Zähne.

»Steh auf, Abdul. Morgenstund hat Gold im Mund!« sprach er dazu in herzlichem Ton. Der Tatare schlug die Augen auf. Sie waren schwarz, glanzlos, ohne den geringsten Ausdruck.

»Versuch du nur zu zappeln und wegzulaufen«, lud Fandorin ihn ein. »Dann knall ich dich ab wie einen räudigen Hund.«

»Lauf nirgendhin«, erwiderte der Mörder und gähnte herzhaft. »Bin kein Kind nich.«

»An den Galgen kommst du«, sagte Fandorin, der haßerfüllt in die gleichmütigen Augen sah.

»Kommt, wie's kommt«, erklärte der Wirt sich einverstanden. »Wie's Allah will.«

Der Detektiv hatte gegen ein unbändiges Kribbeln im Zeigefinger anzukämpfen.

»Komm mir nicht mit Allah, du Drecksack! Wo sind die Toten?«

»Lieg in Speiskammer. Speiskammer iss da!« gab das Scheusal bereitwillig Auskunft. Und deutete auf eine Brettertür.

Die Tür war verriegelt. Fandorin fesselte Abdul mit dessen Ledergürtel die Hände, bevor er mit wehem Herzen den Riegel zurückschob. Drinnen war es finster.

Zögernd ging Fandorin einen Schritt hinein, dann noch einen, doch da schlug ihm eine Handkante hart ins Genick. Verdattert und benommen fiel Fandorin bäuchlings hin, jemand warf sich auf ihn, ein heißer Atem schlug ihm ins Ohr: »Wo ist Hell, wo? Möldel! Hundesohn!«

Mit Mühe (der Schlag war saftig gewesen und hatte zudem die Beule von gestern getroffen) nahm Fandorin sein Japanisch zusammen und stammelte: »Sag bloß, du Faulpelz lernst Vokabeln?«

Dann konnte er nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus.

Doch damit hatten die Erschütterungen noch kein Ende. Nachdem Masas geschundener Kopf verbunden und ein Kutscher ausfindig gemacht war, ging Fandorin den Kleinen Mischa aus Fiskas Kammer holen. Die Zigeunerin war weg, und Mischa saß nicht mehr gegen die Wand gelehnt, er lag da. Tot. Und nicht der Bauchschuß war die Ursache. Jemand hatte dem Ganovenkönig fein säuberlich die Kehle durchgeschnitten.

Mit dem Revolver im Anschlag fegte Fandorin über den dunklen Korridor, doch der verzweigte sich ausführlich und führte in klamme, undurchdringliche Finsternis. Hier konnte man froh sein, wenn man sich nicht verirrte - jemanden zu finden war ein Ding der Unmöglichkeit.

Als Fandorin aus der »Galeere« trat, mußte er blinzeln, denn die Sonne schaute schon über die Dächer. Masa saß in einer Mietkutsche, das ihm anvertraute Portefeuille fest in der einen Hand, die andere am Kragen des gefesselten Abdul. Neben ihm ein unförmiges Bündel - der in eine Decke gewickelte Leichnam Xaveri Gruschins.

»Abfahren!« rief Fandorin und sprang neben den Kutscher auf den Bock. Nur schnell weg von diesem gottverfluchten Ort.

»In die Malaja Nikitskaja, zur Gendarmerie!«

ZEHNTES KAPITEL,

in welchem der Generalgouverneur sein Brötchen in den Kaffee tunkt

Der Wachtmeister, der vor dem Portal der Gendarmerieverwaltung des Gouvernements Moskau, Malaja Nikitskaja, Dienst tat und das seltsame Trio aus der Kutsche steigen sah, verfolgte das Geschehen interessiert, doch nicht über die Maßen verwundert: Auf seinem Posten bekam man allerhand zu sehen. Als erster stieg, über das Trittbrett stolpernd, ein schwarzbärtiger Tatare aus, dem die Arme auf dem Rücken gefesselt waren. Ihm auf dem Fuße folgte ein schlitzäugiger Fremder in zerschlissenem Beschmet, weißem Turban und mit einer edlen Ledermappe unterm Arm, der den Gefangenen mit Püffen vorantrieb. Als letzter sprang - behender, als man es für sein Alter erwartete - ein zerlumpter Greis vom Kutschbock. Der Wachtmeister sah etwas genauer hin und bemerkte den Revolver in der Hand des Alten, und der Turban auf dem Kopf des Schlitzäugigen war kein Turban, sondern ein stellenweise blutgetränktes Handtuch. Klarer Falclass="underline" Ein Trupp Geheimagenten kehrte von der Operation zurück.

»Ist General Karatschenzew in seinem Zimmer?« fragte der alte Mann mit junger, forscher Befehlsstimme, und der altgediente Gendarm salutierte, statt unnötige Fragen zu stellen: »Zu Befehl. Eingetroffen vor einer halben Stunde.«

»Ruf den d-diensthabenden Offizier, Wachtmeister«, sagte der maskierte Agent mit leichtem Stottern. »Er soll sich um den Gefangenen kümmern. Und da drinnen« - er deutete 87

finster auf die Kutsche, wo das sperrige Bündel zurückgeblieben war - »liegt unser Toter. Der muß fürs erste in die Kühlkammer. Gruschin, Kriminalamtsleiter a. D.« »Nicht möglich, Euer Wohlgeboren! Xaveri Gruschin, den kenne ich doch, wir haben etliche Jahre im selben Amt ...« Der Wachtmeister nahm das Käppi ab und bekreuzigte sich. Eilig schritt Fandorin durch das weitläufige Vestibül, so daß Masa, das bauchige Portefeuille schwenkend (von den dicken Geldscheinbündeln schien das Leder platzen zu wollen), kaum hinterherkam. Das Amt war zu dieser frühen Stunde noch recht leer - und es war ohnehin nicht der Ort, wo sich die Besucher drängten. Vom anderen Ende des Korridors her, wo an geschlossener Tür ein Schild Turnsaal für Offiziere prangte, konnte man Rufe hören, dazu ein metallisches Klirren. Skeptisch schüttelte Fandorin den Kopf: Das Rapierfechten schien für einen Gendarmerieoffizier immer noch von lebenswichtiger Bedeutung zu sein. Man fragte sich, wozu und mit wem. Mit Bombenlegern etwa? Alles Rudimente einer vergangenen Zeit. Besser wäre es, Jiu-Jitsu zu lernen oder wenigstens englischen Faustkampf.