An der Tür zum Vorzimmer des Polizeipräsidenten sagte Fandorin zu Masa: »Bleib hier sitzen, bis du gerufen wirst. Und gib gut auf das Mäppchen acht. Tut der Kopf sehr weh?« »Mein Kopf ist stark«, erwiderte der Japaner stolz.
»Na, Gott sei Dank. Rühr dich nicht von der Stelle, hörst du?«
Masa blies beleidigt die Backen auf, er schien die Ermahnung für überflüssig zu halten. Hinter der hohen, zweiflügeligen Tür lag ein Sekretariat, von dem aus man, wie Täfelchen auswiesen, geradeaus in das Arbeitszimmer des Polizeipräsidenten oder nach rechts in ein Geheimkontor gelangte. Zwar verfügte General Karatschenzew über eine eigene Kanzlei am Twerskoi Boulevard, doch nutzte Seine Exzellenz lieber das Kabinett in der Malaja Nikitskaja - näher am verborgenen Räderwerk der Staatsmaschinerie.
»Wohin?« Der diensthabende Adjutant stellte sich dem zerlumpten Eindringling in den Weg.
»Kollegienassessor Fandorin, Sonderbeauftragter des Generalgouverneurs, in dringender Angelegenheit.«
Der Adjutant nickte und verschwand, ihn zu melden. Nach kurzer Zeit kam Karatschenzew persönlich herausgeeilt. Beim Anblick des elenden Strolches verhielt er den Schritt.
»Fandorin, sind Sie das? Eindrucksvolle Maske. Was gibt es?«
»So einiges.«
Fandorin trat in Karatschenzews Arbeitszimmer und schloß hinter sich die Tür. Der Adjutant hatte dem ungewöhnlichen Besucher neugierig hinterhergeblickt. Nun stand er auf, spähte nach draußen auf den Korridor. Außer einem Kirgisen, der genau gegenüber saß, war niemand zu sehen. Also kehrte der Offizier auf Zehenspitzen zur Tür seines Vorgesetzten zurück und legte das Ohr an. Die ruhige Stimme des Sonderbeauftragten war zu hören, dazwischen hin und wieder des Generals aufgeregter Baß. Leider ließ sich nur er verstehen. Das hörte sich folgendermaßen an:
»Was denn für ein Portefeuille?«
»...«
»Wie konnten Sie nur!« »...«
»Und er?« »... «
»Mein Gott!« »...«
»Zur Chitrowka?«
In diesem Moment flog die Tür zum Korridor auf, und der Adjutant hatte alle Mühe zurückzuspringen - er tat so, als hätte er eben beim General anklopfen wollen, und drehte sich mißmutig nach dem Eintretenden um. Der, ein fremder Offizier mit Portefeuille unterm Arm, winkte begütigend ab und zeigte auf die andere Tür, die in das Geheimkontor führte: Keine Umstände! mochte das heißen, ich muß dort hinein. Rasch hatte er den großen Raum durchschritten und war verschwunden. Der Adjutant konnte seinen Horchposten wieder beziehen.
»Das ist ja unglaublich!« rief Karatschenzew aufgeregt. Und eine Weile später, fassungslos: »Churtinski? Das ist die Höhe!«
Der Adjutant klebte buchstäblich an der Tür, um wenigstens Bruchstücke von des Kollegienassessors Bericht mitzubekommen, doch ausgerechnet jetzt mußte ein Kurier mit Eilbrief hereinschneien, den er entgegenzunehmen und zu quittieren hatte.
Zwei Minuten später kam der General heraus - hochrot im Gesicht und ganz aufgelöst. Doch das Glänzen in den Generalsaugen ließ günstige Neuigkeiten vermuten. Hinter Karatschenzew erschien der sonderbare Beauftragte.
»Erledigen wir als erstes die Sache mit dem Portefeuille, und anschließend befassen wir uns mit unserem Schießbuden-Kain«, sagte der Polizeipräsident und rieb sich die Hände. »Wo haben Sie denn Ihren Japaner?«
»Erwartet auf dem K-... Korridor.«
Der Adjutant schielte um den Türpfosten und sah, wie der General und der Beauftragte vor dem schäbigen Kirgisen stehenblieben. Der stand auf, verneigte sich förmlich, die Hände auf die Oberschenkel gelegt.
Der Kollegienassessor sprach ihn in unverständlichem Kauderwelsch an; es schien eine dringliche Frage zu sein.
Der Asiate verneigte sich noch einmal und gab etwas zur Antwort, das Besänftigung verhieß. Der Beamte wurde lauter, schien nicht einverstanden zu sein.
Bestürzung trat in das asiatische Gesicht. Noch ein Versuch der Rechtfertigung.
Der General drehte den Kopf vom einen zum anderen. Verwirrt zog er die rötlichen Brauen zusammen.
Nun griff der Kollegienassessor sich an die Stirn und kam auf den Adjutanten zu.
»Ist bei Ihnen ein Offizier mit Portefeuille durchgekommen?«
»Sehr wohl. Er begab sich nach nebenan ins Geheimkontor.«
Rüde stieß der Beamte erst den Polizeipräsidenten und dann den Adjutanten beiseite und stürzte quer durch das Sekretariat zur seitlichen Tür hinein. Die drei anderen liefen ihm nach. Hinter der Tür lag ein kurzer Flur, dessen Fenster auf den Hof gingen. Eines davon war offen. Der Kollegienassessor lehnte sich über die Fensterbank hinaus.
»Da unten sind Stiefelabdrücke! Er ist hinuntergesprungen!« stöhnte der hitzige Sonderbeauftragte und hieb vor Wut die Faust gegen den Fensterrahmen. So heftig, daß sämtliche Scheiben traurig klirrend nach draußen fielen.
»Fandorin, was ist denn los?« fragte der Polizeipräsident ganz erschrocken.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Angesprochene und hob die Hände. »Masa sagt, ein Offizier sei auf dem Korridor auf ihn zugekommen, habe ihn beim Namen angesprochen und ihm einen versiegelten Brief übergeben, dafür habe er ihm das Portefeuille abgenommen und behauptet, er 89
wolle es mir bringen. Und ein Offizier war da tatsächlich, nur ist er leider mitsamt dem Portefeuille durch das Fenster hier gesprungen. Wenn das kein Alptraum ist!« »Und der Brief? Wo ist er?«
Der Beauftragte fand seinen Eifer wieder und fing erneut asiatisch zu radebrechen an, worauf der Kittelträger, sichtlich bis zum Äußersten zerknirscht, einen großen, amtlich versiegelten Brief aus dem Rock zog und dem General mit einer Verbeugung reichte. Karatschenzew prüfte Siegel und Adresse.
»Hm«, machte er und las laut: »An die Gendarmerieverwaltung des Gouvernements Moskau. Von der Abteilung Ordnung und Öffentliche Sicherheit des Amtsbezirks St. Petersburg.«
Er öffnete den Umschlag und begann vorzulesen.
»Geheim! "Zu Händen des Moskauer Polizeipräsidenten. Gemäß §16 Kaiserl. Verfügung über Maßnahmen zur Wahrung der staatlichen Ordnung und der öffentlichen Ruhe, in Abstimmung mit dem Generalgouverneur von St. Petersburg, ist der Hebamme Maria Iwanowna Iwanowa aufgrund politischer Unzuverlässigkeit das Wohnrechtin St. Petersburgund Moskau verwehrt, wovon Eure Exzellenz in Kenntnis zu setzen ich hiermit die Ehre habe. Gez. Rottmeister Schipow, Abteilungsleiter. Was soll der Blödsinn!«
Der General drehte das Blatt ratlos in den Händen.
»Ein harmloses Zirkular. Was hat das mit dem Portefeuille zu tun?«
»Die Sache ist d-... doch sonnenklar«, äußerte der Kollegienassessor matt, der Verdruß brachte ihn wieder einmal zum Stottern. »Jemand hat den Umstand ausgenutzt, daß Masa kein Russisch versteht und Uniformen g-g-... gegenüber eine g-g-... grenzenlose Unterwürfigkeit an den Tag legt. Erst recht, wenn ein Säbel an der Seite hängt.«
»Fragen Sie ihn, wie der Offizier aussah«, befahl der General.