Der Beauftragte hörte sich die verworrene Rede des Asiaten nur kurze Zeit an, dann winkte er ab: »Gelbe Haare, Wasseraugen, das Übliche ... Für ihn sehen wir alle gleich aus.«
Er wandte sich an den Adjutanten: »Haben Sie denn den Mann nicht erk-k-...kannt?«
»Tut mir leid«, antwortete der, hob bedauernd die Arme und wurde sogar ein bißchen rot. »Ich hab nicht genau hingesehen. Blond war er und ziemlich groß. Normale Gendarmenuniform. Hauptmann.«
»Optische Analyse und Verbalcharakteristik sind Ihnen wohl nicht beigebracht worden?« fragte der Beauftragte anzüglich. »Vom Tisch zur Tür sind es zehn Schritt Entfernung!« Der Adjutant schwieg und errötete noch mehr.
»Eine K-k-... Katastrophe, Euer Exzellenz«, konstatierte der verkleidete Mann. »Die Million ist uns durch die Lappen gegangen. Und ich frage mich, wie? Es ist geradezu mystisch! Was machen wir nun?«
»Ist doch egal!« sagte Karatschenzew und winkte verächtlich ab. »Als ob es um die Million ginge! Die wird sich schon wieder anfinden, eine Million geht nicht so leicht verloren. Wir haben Wichtigeres zu tun. Dem feinen Herrn Churtinski müssen wir einen Besuch abstatten. Dieser Marionette!« Karatschenzew setzte ein böses Lächeln auf. »Er wird uns wohl oder übel Licht in die Sache bringen. Das sind höchst interessante Entwicklungen. Unser lieber Dolgorukoi ist damit auch abgemeldet. Er hat eine Schlange an seinem Busen genährt, und was für eine!«
Kollegienassessor Fandorin schreckte aus seinen Gedanken.
»Ja, gewiß, fahren wir zu Churtinski. Ehe es zu spät ist.«
»Erst müssen wir leider zum Fürsten«, seufzte der Polizeipräsident. »Ohne seinen Segen kommen wir nicht weiter. Aber das macht nichts, ich schaue mir mit Vergnügen an, wie der alte Schlaukopf sich winden wird. Nix da, Durchlaucht, diesmal schlängelt Ihr Euch nicht raus! Swertschinski!«
Der General sah nach seinem Adjutanten.
»Meine Kutsche, aber schnell. Und dazu einen Wagen mit Kommando zur Verhaftnahme - der soll mir zum Haus des Generalgouverneurs folgen. Drei Mann in Zivil, das muß reichen. Wird ja wohl ohne Ballerei abgehen, nehme ich an.« Und wieder setzte er sein lüsternes Lächeln auf.
Im Laufschritt befolgte der Adjutant die Anweisungen. Fünf Minuten später fegte eine von vier Pferden gezogene Kutsche mit Karacho über das Kopfsteinpflaster. Sanft schaukelnd folgte der stahlgefederte Wagen mit den drei Zivilagenten.
Nachdem er die Kolonne aus den Augen verloren hatte, griff der Adjutant zur Telefonmuschel, drehte die Kurbel und nannte eine Nummer. Dann sagte er, den Blick zur Tür gerichtet, halblaut: »Herr Wedischtschew, sind Sie es? Swertschinski am Apparat.«
Die Herren mußten im Vorzimmer darauf warten, vorgelassen zu werden. Der Sekretär des Gouverneurs äußerte sein tiefes Bedauern, blieb jedoch fest in der Kundgabe, Durchlaucht wären momentan sehr beschäftigt, wünschten von niemandem behelligt zu werden, auch Anmeldungen würden derzeit nicht entgegengenommen. Karatschenzew sah Fandorin mit süffisantem Lächeln an, als wie: Da scheint der Alte sich zu guter Letzt noch ins Zeug zu legen. Mindestens eine Viertelstunde verging, ehe endlich der Klang eines Glöckchens durch die überdimensionale vergoldete Tür herausdrang.
»Jetzt darf ich Sie anmelden, Euer Exzellenz«, sagte der Sekretär und erhob sich.
Beim Eintreten klärte sich sogleich, mit welcherart unaufschiebbaren Dingen der Fürst beschäftigt war: Er frühstückte. Genauer gesagt, ging das Frühstück dem Ende entgegen, die ungeduldigen Besucher durften seiner letzten Phase beiwohnen: Fürst Dolgorukoi trank Kaffee. Eine flauschige Leinenserviette akkurat um den Hals gebunden, saß er da, tunkte ein Milchbrötchen aus Filippows Patisserie in seine Tasse und schien in aufgeräumter Stimmung zu sein.
»Guten Morgen, die Herren!« rief er freundlich, nachdem der Bissen hinuntergeschluckt war. »Nehmen Sie es mir nicht krumm, daß ich Sie warten ließ. Mein Frol ist da streng, er duldet bei den Mahlzeiten keine Ablenkung. Möchten Sie nicht vielleicht einen Kaffee? Es gibt vorzügliche Brötchen, die zergehen auf der Zunge.«
Hier kam der Gouverneur darauf, den Begleiter des Generals etwas aufmerksamer zu betrachten, und er verzog überrascht das Gesicht. Zwar hatte Fandorin auf dem Weg in die Twerskaja Graubart und Perücke abgenommen, doch zum Umkleiden war keine Gelegenheit gewesen. Sein Anblick war durchaus irritierend. Fürst Dolgorukoi schüttelte mißbilligend den Kopf und hüstelte.
»Fandorin, ich weiß, ich hatte Ihnen nahegelegt, getrost ohne Uniform zu erscheinen, aber das geht ein bißchen zu weit, mein Lieber. Was ist mit Ihnen, haben Sie im Kartenspiel verloren?« Des Fürsten Stimme klang ungewohnt streng. »Mir liegt nicht viel an alten Zöpfen, das wissen Sie, aber ich muß Sie bitten, in derlei Aufzug künftig nicht mehr bei mir anzutanzen. Das ist ganz und gar nicht schön.«
Tadelnd wiegte er den Kopf, während er an seinem Brötchen weiterkaute. Doch der Ausdruck in den Gesichtern des Polizeipräsidenten und des Kollegienassessors war von einer Art, daß Dolgorukoi im Kauen innehielt und verwundert fragte: »Was ist denn passiert, meine Herren? Brennt's irgendwo?«
»Schlimmer, Hohe Exzellenz. Weit schlimmer!« versetzte Karatschenzew beinahe wollüstig und nahm, der Aufforderung zuvorkommend, im Sessel Platz. Fandorin blieb stehen.
»Der Chef Eurer Geheimkanzlei ist ein Dieb und Verbrecher, und er ist ein Schutzpatron der kriminellen Unterwelt in dieser Stadt. Der Herr Kollegienassessor verfügt über die nötigen Beweise. Eine heikle Situation, Durchlaucht, eine äußerst heikle Situation. Ich weiß offen gestanden nicht, wie wir uns da herausmanövrieren werden.«
Der General ließ eine kleine Pause, damit der Alte Zeit hatte zu kapieren, um dann honigsüß fortzufahren: »Ich hatte ja mehrfach die Ehre, Hohe Exzellenz über das verwerfliche Verhalten des Herrn Churtinski zu unterrichten, ohne daß Sie mir Gehör schenkten. Doch hätte ich selbstredend nie geahnt, wie hochgradig kriminell die Machenschaften dieses Mannes sind.«
Der Generalgouverneur verfolgte die kurze, effektvolle Rede mit halboffenem Mund. Fandorin erwartete einen Ausruf, einen Sturm der Entrüstung, die Forderung, Beweise auf den Tisch zu legen, doch Juri Dolgorukoi ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. Während der Polizeipräsident erwartungsvoll schwieg, kaute der Fürst erst einmal zu Ende, nippte vom Kaffee. Dann seufzte er, und es klang nach einem Vorwurf.
»Das ist sehr schlecht, mein Lieber, daß Sie nicht früher darauf gekommen sind. Immerhin sind Sie der Chef der Moskauer Polizei, eine Säule des Gesetzes und der Ordnungsmacht. Ich bin kein Gendarm und habe andere Dinge im Kopf, die ganze aufwendige Verwaltung dieser Stadt liegt auf meinen Schultern. Aber Pjotr Churtinski habe ich schon lange in Verdacht.«
»Ach ja?« fragte der Polizeipräsident spöttisch. »Seit wann denn das?«
»L-a-ange! Der liebe Pjotr gefällt mir schon eine ganze Weile nicht mehr. Erst vor drei Monaten habe ich eurem Minister, dem Grafen Tolstow, brieflich kundgetan, daß Hofrat Churtinski, vorliegenden Erkenntnissen zufolge, nicht nur ein korrupter Hund, sondern ein Dieb und Lügner ist.«
Der Fürst wühlte in den Papieren auf seinem Tisch.
»Irgendwo hatte ich doch die Kopie von dem Schreiben ... Da ist sie.«
Er hob ein Blatt in die Höhe, schwenkte es vage.
»Der Graf hat auch geantwortet. Wo haben wir das nun wieder? ... Ah ja.«
Er wies ein anderes Blatt vor, das ein Monogramm trug.
»Soll ich vorlesen? Der Minister hat mich vollständig beschwichtigt und angeraten, mir um Churtinski keine Sorgen zu machen. Hören Sie.«
Der Gouverneur setzte den Kneifer auf.
»Auf etwaige Bedenken Dero Hoher Exzellenz hinsichtlich der Tätigkeit von Hofrat Churtinski beeile ich mich zu versichern, daß gelegentlich undurchsichtige Verhaltensweisen des betreffenden Beamten durchaus nicht kriminellen Antrieben entspringen, sondern der Erfüllung einer hochwichtigen geheimdienstlichen Staatsmission geschuldet sind, von der Kaiserliche Hoheit ebenso wie meine "Wenigkeit Kenntnis haben. Von daher darf ich Sie beruhigen, verehrtester Wladimir An 92 drejewitsch, und erlaube mir insbesondere in Erwähnung zu bringen, daß die Churtinski übertragene Aufgabe in keiner Weise gegen die Kompetenzen von ... - na gut, das gehört schon nicht mehr zur Sache. Sie sehen, meine Herren, wenn hier jemand etwas versäumt hat, dann nicht Dolgorukoi, sondern Ihre Behörde, Karatschenzew. Warum sollte ich Gründe haben, dem Innenministerium nicht zu trauen?«