Vor Überraschung verlor der Polizeipräsident die Contenance. Jäh sprang er auf und langte nach dem Brief, was nicht sehr gescheit war, denn jeder Verdacht einer Mystifikation verbot sich in solch ernsthafter Angelegenheit von selbst -sie wäre allzu leicht zu überführen gewesen. Gleichmütig überließ der Fürst dem rothaarigen General den Briefbogen.
»Tatsächlich«, murmelte Karatschenzew. »Das ist die Unterschrift des Grafen. Kein Zweifel.«
»Hat Ihr Vorgesetzter etwa unterlassen, Sie davon in Kenntnis zu setzen?« fragte der Fürst mitfühlend. »O weh, das ist aber gar nicht schön. So etwas gehört sich nicht. Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, welche Geheimmission Churtinski zu erfüllen hatte?« Karatschenzew schwieg. Er schien vollkommen konsterniert. Derweil kreisten Fandorins Gedanken um ein merkwürdiges Detaiclass="underline" Wieso lag ein drei Monate altes Schreiben dem Fürsten vor der Nase zwischen den aktuellen Vorgängen? Was er indes aussprach, war etwas anderes: »Mir ist genausowenig bekannt, worin Herrn Churtinskis g-... geheime Aufgabe bestand, aber in diesem Fall hat er den Rahmen zweifellos überschritten. Seine Verbindungen zu den Ganovenkreisen der Chitrowka sind eindeutig und mit Staatsräson nicht zu erklären. Und vor allem: Churtinski ist ganz offensichtlich in die Geschehnisse verwickelt, die zum Tod des Generals Sobolew führten.«
Worauf Fandorin in aller Kürze und Punkt für Punkt die Vorkommnisse rund um die gestohlene Million rapportierte. Der Gouverneur hörte sehr aufmerksam zu. Am Ende sagte er resolut: »Ein Gauner, ein ausgemachter Gauner. Er gehört in Arrest genommen und verhört.«
»D-... Deswegen, Durchlaucht, sind wir hier.«
Und der Polizeipräsident - schneidig, ehrerbietig, in gänzlich anderem Tonfall als zuvor - vergewisserte sich: »Darf ich das als Anweisung verstehen, Hohe Exzellenz?«
»Aber freilich, mein Bester!« Dolgorukoi nickte. »Der Spitzbube ist doch schuld an allem.« Im Eilschritt liefen die beiden Polizeioffiziere die langen Korridore entlang, die Zivilagenten polternd hinterdrein. Fandorin sagte kein Wort und mühte sich, Karatschenzew nicht anzuschauen. Er konnte sich vorstellen, wie sehr der an seiner Niederlage zu knabbern hatte, zumal es einer noch unangenehmeren und alarmierenden Tatsache ins Auge zu sehen galt: Es gab offenbar Dinge, die die Obrigkeit nicht dem Moskauer Polizeipräsidenten anvertraute, sondern lieber seinem ewigen Widersacher, dem Geheimdienstchef der Gouverneurskanzlei.
Sie begaben sich in den ersten Stock, wo die Amtszimmer lagen. Fandorin fragte den diensthabenden Wachmann, ob Herr Churtinski an seinem Platz sei. Er war es, seit dem Morgen schon.
Karatschenzew, frischen Mut fassend, beschleunigte seinen Schritt noch mehr. Wie eine Kanonenkugel schoß er den Korridor entlang - mit blitzenden Sporen und klappernden Achselschnüren.
Das Vorzimmer des Geheimdienstchefs war voller Wartender.
»Ist er da?« fragte der General den Sekretär barsch.
»Jawohl, Euer Exzellenz, doch er möchte keinesfalls gestört werden. Darf ich Sie anmelden?«
Der Polizeipräsident winkte ab. Er sah sich nach Fandorin um, schmunzelte in seinen buschigen Schnurrbart und öffnete die Tür.
Zuerst meinte Fandorin Pjotr Churtinski auf dem Fensterbrett stehen und auf die Straße hinunterspähen zu sehen. Aber im nächsten Moment war ihm klar, daß Churtinski nicht stand, sondern hing.
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ELFTES KAPITEL,
in welchem der Fall eine unerwartete Wendung nimmt
Zum dritten Mal nun schon las Fürst Dolgorukoi mit gefurchter Stirn die in vertrauter Handschrift hingeworfenen Zeilen:
Ich, Pjotr Churtinski, bekenne, aus Habgier ein Verbrechen gegen meine Pflicht und Schuldigkeit sowie Verrat an demjenigen begangen zu haben, dem treu zu dienen und in seinem anspruchsvollen Werk allmöglichst behilflich zu sein ich geschworen habe. Gott ist mein Richter.
Die Zeilen waren schief, ineinandergekeilt, und die letzte endete ganz und gar in einem Klecks, so als hätte der Schreibende sich zuletzt in einem Übermaß an Reue erschöpft. »Also, was hat der Sekretär ausgesagt?« fragte der Gouverneur. Er sprach langsam. »Erzählen Sie's noch einmal, mein bester Karatschenzew, und in aller Ausführlichkeit, wenn ich bitten darf.«
So berichtete Karatschenzew zum zweiten Mal, nun schon ruhiger und zusammenhängender als beim ersten, was bislang zu erfahren gewesen war.
»Churtinski ist um zehn Uhr zum Dienst erschienen wie gewöhnlich. Er wirkte normal, dem Sekretär sind keine Anzeichen von Verstörung oder Erregung aufgefallen. Nach Durchsicht der Korrespondenz begann Churtinski mit der Sprechstunde. Etwa fünf Minuten vor elf erschien im Sekretariat ein Gendarmerieoffizier, der sich als Hauptmann Pewzow vorstellte und in Eigenschaft eines Petersburger Kuriers 94
in dringender Angelegenheit zum Hofrat vorgelassen zu werden wünschte. Im Arm hielt der Hauptmann ein braunes Portefeuille, das in seiner Beschreibung dem gestohlenen exakt entspricht. Pewzow wurde sogleich ins Kabinett beordert, die Sprechstunde hierfür unterbrochen. Bald darauf erschien Churtinski in der Tür, wies an, bis auf weiteres niemanden mehr einzulassen, verbat sich überhaupt jede Störung. Nach Aussage des Sekretärs wirkte sein Vorgesetzter hierbei überaus erregt. Zehn Minuten später entfernte sich der Hauptmann, nachdem er erklärt hatte, der Herr Hofrat sei beschäftigt und untersage strengstens jedwede Inanspruchnahme, da es Geheimdokumente zu studieren gebe. Eine weitere Viertelstunde später, um elf Uhr zwanzig, erschienen Kollegienassessor Fandorin und ich.«
»Was sagt der Arzt? Kann es Mord gewesen sein?«
»Er sagt, alle Anzeichen sprächen für eine Autostrangulation. Churtinski hat sich die Kordel vom Schließhaken des Oberfensters um den Hals geschlungen und ist vom Fensterbrett gesprungen. Halswirbelbruch in charakteristischer Form. Auch der Abschiedsbrief läßt, wie Sie sehen, keine Zweifel zu. Eine Fälschung ist ausgeschlossen.« Der Generalgouverneur bekreuzigte sich und wurde tiefsinnig.
»>Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hob sich davon, ging hin und erhängte sich selbst ...< Des Frevlers Schicksal ist einem gerechteren Richter in die Hände gelegt, als Sie und ich es sind, meine Herren.«
Fandorin konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als käme der Ausgang der Geschichte dem Fürsten nur zu gelegen. Dafür schien der Polizeipräsident deutlich verdrossen: Eben noch hatte er das kostbare Fädchen in der Hand 95
gehalten, das ihn zum goldenen Knäuel hinzuführen versprach, nun war es schon wieder abgerissen.
Den Kollegienassessor hinwiederum scherten im Moment weder Staatsgeheimnisse noch zwischenbehördliche Intrigen, ihn beschäftigte der geheimnisvolle Hauptmann Pewzow. Daß dieser Mann es gewesen war, der vierzig Minuten, bevor er in Churtinskis Vorzimmer auftauchte, dem armen Masa die Sobolewsche Million abgeluchst hatte, ließ sich kaum bezweifeln. Vom Gendarmerieamt war der Polizeihauptmann (oder auch nur einer, der sich die blaue Hauptmannsuniform übergezogen hatte, wie Fandorin anzunehmen geneigt war) auf kürzestem Wege in die Gouverneurskanzlei herübergekommen. Der Sekretär hier hatte ihn sich gründlicher angesehen als der Adjutant des Polizeipräsidenten, und er beschrieb ihn so: etwa zwei Arschin, sieben Werschok groß, breitschultrig, strohblond. Besonderes Kennzeichen: sehr helle, beinahe farblose Augen. Von diesem Detail bekam Fandorin eine Gänsehaut. In seiner Jugend hatte er mit einem Mann, der genau solche Augen hatte, Bekanntschaft schließen müssen, und Fandorin erinnerte sich ungern jener weit zurückliegenden Geschichte, die ihn damals teuer zu stehen gekommen war. Im übrigen hatte die schmerzliche Erinnerung nichts mit dem anliegenden Fall zu schaffen, und er scheuchte den düsteren Schatten von sich.