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Seine Fragen ordneten sich wie folgt: War dieser Mann tatsächlich ein Gendarm? Wenn ja (und erst recht, wenn nicht), was spielte er für eine Rolle im Fall Sobolew? Und vor allem: Woher wußte er so teuflisch gut Bescheid, wie konnte er so wundersam allgegenwärtig sein?

Zur gleichen Zeit formulierte auch der Generalgouverneur die ihn interessierenden Fragen. Allerdings klangen sie etwas anders.

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»Wie machen wir weiter, meine Herren Detektive? Was sollen wir nach oben berichten? Ist Sobolew ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben? Was hat Churtinski vor unserer, das heißt, Ihrer Nase, General, tatsächlich getrieben? Wohin ist die Million verschwunden? Und wer ist dieser Pewzow? Was haben Sie zu alledem zu sagen, Euer Exzellenz, unser aller Beschützer?«

In der aufgesetzten Gutmütigkeit des Fürsten schwang ein bedrohlicher Unterton.

Der General, in großer Erregung, wischte sich mit dem Taschentuch die schweißige Stirn. »In meinem Amt gibt es keinen Pewzow. Denkbar wäre es, daß er tatsächlich von Petersburg angereist ist und direkt, unter Umgehung des Dienstweges, mit Churtinski zu verhandeln hatte. Ich mutmaße das Folgende.«

Nervös zupfte Karatschenzew sich am Backenbart.

»Churtinski hatte gewisse konfidentielle Aufgaben höhererseits zu erfüllen, von denen Sie und ich« - der Polizeipräsident schluckte - »keine Kenntnis hatten. Dazu gehörte offenbar auch die Betreuung des Generals Sobolew während seiner Visite in Moskau. Wozu das nötig gewesen sein soll, weiß ich nicht. Von irgendwoher muß Churtinski erfahren haben,

daß Sobolew eine beträchtliche Summe Geld bei sich führte, von der auch sein Gefolge nichts wußte. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde Churtinski über Sobo-lews plötzlichen Tod im >Anglija< informiert - vermutlich durch die Agenten, die den General beschatteten. Ja, und dann ... Wie wir wissen, war der Hofrat in seiner Habgier unersättlich und in seinen Mitteln nicht wählerisch. Er erlag der Versuchung, den Batzen Geld an sich zu reißen, und schickte seinen Spießgesellen, einen veritablen Geldschrankknacker, genannt: Kleiner Mischa, den Tresor zu öffnen und 96

das Portefeuille zu entwenden. Doch das von Churtinski eingefädelte Spielchen durchkreuzte Hauptmann Pewzow, der allem Anschein nach abgestellt war, die Beschatter zu beschatten - das kommt in unserer Behörde nicht selten vor. Pewzow fing das Portefeuille ab und erschien damit vor Churtinski, um ihn des Diebstahls und der Doppelzüngigkeit zu bezichtigen. Nach Abgang des Hauptmanns begriff der Hofrat, daß er ausgespielt hatte, schrieb seinen Abschiedsbrief und erhängte sich ... Das ist die einzige Erklärung, die mir in den Kopf will.«

»Doch. Das klingt schlüssig«, gab Dolgorukoi zu. »Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?« »Als erstes lassen wir uns aus Petersburg Auskunft betreffs Person und Vollmachten des Hauptmanns Pewzow geben. Währenddessen können Fandorin und ich die Papiere des Selbstmörders sichten. Ich nehme mir den Inhalt des Tresors vor, und Herr Fandorin studiert Churtinskis Journal.«

Der Kollegienassessor mußte in sich hineinlächeln: geschickt, wie der General die Beute zu teilen beabsichtigte. Der eine bekam den ganzen Tresorinhalt ab, der andere ein gewöhnliches, offen auf dem Tisch des Verstorbenen liegendes dienstliches Notizbuch. Dolgorukoi trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum, ordnete mit routinierter Bewegung die etwas verrutschte Perücke.

»Ich darf Ihre Schlußfolgerungen so verstehen, Karatschenzew, daß Sobolew nicht ermordet, sondern eines natürlichen Todes gestorben ist. Daß Churtinski ein Opfer seiner eigenen Habgier wurde. Und daß Pewzow ein Petersburger ist. Teilen Sie diese Auffassungen, Fandorin?«

»Nein«, kam die knappe Antwort.

»Aha. Ist ja interessant!« Der Gouverneur lebte auf. »Dannbin ich sehr gespannt, was Sie sich zurechtklamüsert haben - so mit Punkt eins, Punkt zwei, Punkt drei, wie ich Sie kenne.«

»Zu Diensten, Durchlaucht.« Wohl nur um des Effektes willen zögerte der junge Mann einen Moment, bevor er unbeirrbar seine Ausführungen begann.

»Einiges spricht dafür, daß General Sobolew an einer Geheimaktion teilhatte, über deren Inhalt wir vorläufig nichts wissen. Zum Beispiel die diskret beschaffte riesige Geldsumme - Punkt eins. Die im Hoteltresor verwahrten Geheimpapiere, die die Gefolgschaft des Generals den Behörden vorenthalten zu müssen meint - Punkt zwei. Die Tatsache, daß Sobolew observiert wurde - denn ich denke, hierin hat General Karatschenzew recht - Punkt drei.«

Die Aussage von Fräulein Golowina - Punkt vier! fügte Fandorin im stillen hinzu. Wobei er die Minsker Lehrerin nicht unnötig in die Ermittlungen hineinziehen mochte.

»Endgültige Schlüsse zu ziehen, halte ich für verfrüht, doch erdreiste ich mich zu ein paar Vermutungen. Sobolew ist ermordet worden. Und zwar auf hinterhältige Weise, die einen natürlichen Tod vortäuschte. Churtinski fiel seiner Habsucht zum Opfer, verlor durch seine unangefochtene Stellung den Boden unter den Füßen - auch in diesem Punkt stimme ich Ihnen, Herr General, vollkommen zu. Doch der eigentliche Übeltäter, der Hauptdrahtzieher hinter den Kulissen, scheint mir jener zu sein, den wir als Hauptmann Pewzow kennengelernt haben. Dieser Mann hat Churtinski, dem hartgesottenen Schelm und Gauner, einen Todesschreck eingejagt. Er ist im Besitz des Portefeuilles. Pewzow weiß alles, und ihm gelingt alles. Eine übernatürlich anmutende Intuition, die mir gar nicht gefällt. Diesen blonden Mann mit den hellen Augen, der zweimal in Hauptmannsuniform gesehen wurde, müssen wir auftreiben - koste es, was es wolle.«

Der Polizeipräsident rieb sich müde die Augenlider.

»Es könnte durchaus sein, daß Herr Fandorin recht hat und ich mich irre. In Fragen der deduktiven Analyse ist der Herr Kollegienassessor mir weit überlegen.«

Ächzend kam der Fürst hinter seinem Schreibtisch hervor, trat zum Fenster und schaute gute fünf Minuten dem Strom der Equipagen auf der Twerskaja zu. Dann drehte er sich um und sagte in einem dienstlichen Ton, den man von ihm nicht kannte: »Ich werde nach oben Rapport erstatten. Als verschlüsselte Depesche, gleich nachher. Sobald ich Antwort habe, rufe ich Sie. Bleiben Sie erreichbar, halten Sie sich zur Verfügung. Wo finde ich Sie, General?«

»In meiner Kanzlei. Ich werde ein bißchen in Churtinskis Papieren stöbern.«

»Und ich bin im >Dusseaux<«, gab Fandorin kund. »Ich kann mich, ehrlich gesagt, kaum mehr auf den Beinen halten. Seit achtundvierzig Stunden habe ich so gut wie nicht geschlafen.«

»Gehen Sie, mein Lieber, legen Sie sich ein Stündchen aufs Ohr. Und bringen Sie endlich Ihr Äußeres in Ordnung! Ich schicke nach Ihnen, wenn ich Sie brauche.«

Zu schlafen hatte Fandorin zwar nicht vor, aber Erfrischung tat not: Ein Eisbad und anschließend eine gute Massage, das würde ihm guttun. Nein, wer mochte an Schlafen denken, wenn sich derlei Geschichten abspielten! Da tat doch keiner ein Auge zu! Fandorin öffnete die Tür zu seinem Hotelzimmer und prallte zurück - denn Masa fiel ihm zu Füßen, preßte den verbundenen Kopf gegen den Boden und stammelte: »Oh, es ist unverzeihlich, Herr, unverzeihlich, unverzeihlich ... Nicht genug, daß ich Euren Onjin nicht behütet habe und die wichtige Ledermappe nicht verteidigt. Nein, das ist noch nicht alles! Ich konnte die Schmach nicht ertragen, wollte Hand an mich legen und habe es gewagt, Euer Schwert zu gebrauchen. Dabei ist es zerbrochen! Noch eine Sünde, noch ein gräßliches Verbrechen!«