Auf dem Tisch lag der Paradedegen - mittendurch gebrochen. «
Fandorin hockte sich neben den leidgeplagten Japaner und strich ihm behutsam über den Kopf. Noch durch das Handtuch war die Riesenbeule zu ertasten.
»Masa, dich trifft überhaupt keine Schuld. Sansei Gruschin habe allein ich auf dem Gewissen, was ich mir nie verzeihen werde. Für das Portefeuille kannst du auch nichts. Weder warst du feige, noch hast du Schwäche gezeigt. Das hier ist ein anderes Leben, hier herrschen andere Regeln, als du es gewöhnt bist. Und der Degen war Talmi - eine Stricknadel, mit der sich keiner etwas antun kann. Wir kaufen einen neuen, kostet fünfzig Rubel, und fertig. War ja kein Familienstück!«
Masa richtete sich auf, Tränen liefen ihm über das verzerrte Gesicht.
»Trotzdem, Herr, ich bestehe darauf. Ich kann nicht einfach so weiterleben, nachdem ich Euch so schmählich enttäuscht habe. Ich fordere eine Bestrafung.«
»Na gut«, seufzte Fandorin. »Du lernst die nächsten zehn Seiten im Wörterbuch auswendig.«
»Zwanzig!«
»Von mir aus. Aber nicht gleich. Erst, wenn der Kopf wieder heil ist. Und jetzt wirst du mir ein Eisbad bereiten, hörst du?«
Während Masa mit dem leeren Eimer hinausstürzte, setzte Fandorin sich an den Tisch und schlug Churtinskis Journal auf. Es war kein übliches Notizbuch, sondern ein englisches, von der Sorte der schedule-books: eine Art Kalender, worin jedem einzelnen Tag des Jahres eine extra Seite zugewiesen war. Fandorin hatte so etwas schon früher gesehen - ein praktisches Ding. Er begann zu blättern, ohne viel Hoffnung, auf etwas von Bedeutung zu stoßen. Was irgend wichtig und vertraulich gewesen war, hatte der Hofrat selbstverständlich in den Tresor gesperrt, während das Büchlein lediglich als Gedächtnisstütze diente: Termine für Sitzungen, Audienzen und Berichte standen vermerkt. Namen waren oft auf ein oder zwei Buchstaben abgekürzt. All dies verstand man nicht so ohne weiteres. Beim Datum 4 July, Tuesday (das war in Rußland, rechnete Fandorin, der 22. Juni) blieb der Detektiv hängen, da ein seltsam in die Länge gezogener Tintenklecks den Blick auf sich zog. Bis hierhin hatte es in dem Buch keinen einzigen Klecks, nicht einmal eine Streichung gegeben - Churtinski schien ein Mann von außerordentlicher Akkuratesse gewesen zu sein. Außerdem war die Form des Kleckses auffällig: als wäre die Tinte nicht von der Feder getropft, sondern mit Absicht verschmiert worden. Fandorin hielt das Blatt ins Licht. Es war nichts zu erkennen. Er tastete mit der Fingerspitze über das Papier. Doch, etwas hatte dort gestanden. Der Tote hatte eine Stahlfeder benutzt, beim Schreiben stark aufgedrückt. Entziffern ließ sich allerdings nichts.
Masa brachte den Eimer mit dem Eis, ließ es in die Wanne prasseln. Derweil holte Fandorin seinen Werkzeugkoffer und entnahm ihm das Instrumentarium, das er benötigte. Er wandte die Seite mit dem Klecks um, legte auf die Rückseite ein hauchdünnes Blatt Reispapier und fuhr ein paarmal mit 98
einer kleinen Gummiwalze darüber. Das Papier war präpariert, mit einer speziellen Lösung getränkt, die auf feinste Unebenheiten reagierte. Mit vor Ungeduld zitternden Fingern zog Fandorin das Blatt ab. Auf mattem Hintergrund zeichneten sich schwach, doch unzweideutig Buchstaben ab: Metropol NQ 19, Klonow.
Der Eintrag stammte vom 22. Juni. Was hatte es an diesem Tag sonst noch gegeben? Der Oberkommandierende des 4. Korps, Infanteriegeneral Sobolew, hatte seine Manöver abgeschlossen und Urlaub eingereicht. Im Hotel »Metropol«, Zimmer N- 19, schien ein Herr Klonow gewohnt zu haben. Existierte zwischen beidem ein Zusammenhang? Vermutlich nicht. Aber was hatte Churtinski bewogen, Name und Adresse zu tilgen? Das hätte man gern gewußt.
Fandorin entkleidete sich und stieg in die Wanne. Wie immer zwang das Bad zur Konzentration aller körperlichen und geistigen Kräfte, ließ nebensächliche Gedanken nicht zu. Fandorin tauchte kopfunter und zählte bis einhundertzwanzig, dann tauchte er auf, öffnete die Augen - und lief puterrot an. Denn auf der Schwelle des Badezimmers stand wie
versteinert die Gräfin Mirabeau, morganatische Gemahlin Seiner Hoheit, des Herzogs Jewgeni Lichtenburgski - auch sie in flammender Röte.
»Monsieur Fandorin, ich bitte um Verzeihung«, stammelte sie auf französisch. »Ihr Diener ließ mich ein und wies auf diese Tür. Ich nahm an, hier sei Ihr Arbeitszimmer ...«
Nach der alten Anstandsregel, bei Eintreten einer Dame nicht sitzenzubleiben, war der von Panik erfaßte junge Mann instinktiv auf die Beine gesprungen, um im nächsten Moment, in noch viel größerer Panik, ins Wasser zurückzuplumpsen. Glühend vor Scham stürzte die Gräfin zur Tür hinaus.
»Masa!« brüllte Fandorin mit Stentorstimme. »Masa!!!« Der Schuft und Missetäter kam geeilt, den Bademantel auf den Armen, und verneigte sich. »Was ist gefällig, Herr?«
»Was gefällig ist?« brüllte Fandorin. Die Entrüstung ließ ihn aus der Haut fahren. »Daß du dir jetzt den Bauch aufschlitzt! Aber nicht mit der Stricknadel, sondern mit dem Reisstäbchen. Wie oft hab ich dir hirnlosem Dachs schon erklärt, daß das Badezimmer in Europa eine intime Räumlichkeit ist! Mich bringst du in die peinlichste Situation, und die Dame kommt um vor Scham!« Ins Russische wechselnd, rief der Detektiv: »Gräfin, ich bitte sehr um Entschuldigung! Machen Sie es sich bequem, ich bin gleich soweit!« Und wieder auf japanisch: »Hemd, Rock und Hose her, elender Tölpel!«
Als Fandorin ins Zimmer kam, war er vollständig angezogen und tadellos gekämmt, nur die Schamröte war noch nicht verflogen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er seinem Gast nach dem skandalösen Vorfall noch in die Augen sehen sollte. Doch entgegen den Erwartungen hatte die Gräfin sich gänzlich beruhigt; neugierig betrachtete sie die an den Wänden hängenden japanischen Kupferstiche. Ganz kurz nur, da sie den verstörten Kriminalbeamten nun anblickte, flackerte in ihren blauen Sobolew-Augen ein kleines Lächeln auf, das jedoch umgehend von einer ernsthaften Miene verdrängt wurde.
»Herr Fandorin, ich erkühne mich, zu Ihnen zu kommen, da Sie als ein alter Freund von Michele damit befaßt sind, die Umstände seines Todes aufzuklären. Mein Mann ist gestern mit dem Großfürsten weggefahren. Irgendwelche dringenden Geschäfte. Während ich den Leichnam meines Bruders auf unser Gut überführen und beerdigen werde.«
Die Gräfin stockte, schien unsicher, ob sie weiterreden sollte. Doch entschlossen, als gälte es, ins tiefe Wasser zu springen, fuhr sie nun fort: »Mein Mann ist ohne Gepäck gefahren. Und in der Tasche eines seiner Gehröcke hat der Diener das hier gefunden. Eugene ist nun einmal sehr zerstreut!«
Die Gräfin reichte Fandorin einen gefalteten Zettel, wobei ihm auffiel, daß noch irgendein Papierchen in ihrer Hand steckte. Auf dem Briefbogen des 4. Armeekorps stand in Sobolews schwungvoller Handschrift auf französisch das Folgende zu lesen: Eugene, zur letzten Verständigung in Dir bekannter Angelegenheit sei am 25. früh in Moskau. Die Zeit ist reif. Ich steige im »Dusseaux« ab. Sei innigst umarmt. Dein Michele.
Eine Erklärung erwartend, sah Fandorin die Besucherin an.
»Es ist sehr eigenartig«, begann sie, seltsamerweise im Flüsterton. »Mein Mann hat mir nicht gesagt, daß er sich in Moskau mit Michele zu treffen beabsichtigte. Ich wußte überhaupt nicht, daß mein Bruder in Moskau sein würde. Eugene hatte bloß gemeint, wir hätten irgendwelche Visiten zu machen und würden dann nach St. Petersburg zurückkehren.« »Das ist in der Tat seltsam«, stimmte Fandorin zu. Er hatte aus dem Stempel ersehen, daß die Depesche dem Kurier in Minsk schon am 16. übergeben worden war. »Aber warum wollen Sie Seine Hoheit nicht selbst danach fragen?«
Die Gräfin biß sich auf die Lippe und hielt ihm den anderen Zettel hin.