Der Hoteldiener bekreuzigte sich.
»Bis dahin war ich hier nur Gehilfe. Jetzt hab ich die Beförderung. Aber der arme Timofej tut mir leid.«
»Mit ihm hat Klonow also über die Damenwelt gesprochen?« lenkte der Detektiv auf das Thema zurück.
Er spürte es, gleich würde der Schleier sich heben, und der wahre Hergang der Ereignisse würde in seiner ganzen Klarheit und Logik vor ihm stehen.
»Einzelheiten hat Timofej nicht zufällig erzählt?«
»Und ob. Der konnte seine Zunge doch nie im Zaum halten! Sämtliche 1-a-Blondinen aus ganz Moskau mußte er für den Neunzehner anheuern, hat er mir erzählt. Pardon, so nennen wir unter uns die Gäste, nach der Zimmernummer. Und wissen Sie, wer seine Favoritin war? Mademoiselle Wanda aus der >Alpenrose<!«
Für einen Moment mußte Fandorin die Augen schließen. Wer geduldig ist, gewinnt. Endlich hatte er den Faden in der Hand und konnte das Knäuel suchen.
»Sie?«
In einen Spitzenumhang gehüllt, stand Wanda in der Tür und schaute erschrocken auf Fandorin, dessen nasse Lederjacke im Licht der Laterne wie von einem Heiligenschein umgeben schien. Hinter dem Rücken des späten Gastes strömte und rauschte die glasige Wand des Regens, noch dahinter stand die Finsternis. Rinnsale flössen von der Jacke zu Boden.
»Kommen Sie herein, Herr Fandorin, Sie sind ja ganz naß.«
»Was mich wundert, ist, daß Sie noch am Leben sind«, erwiderte Fandorin, statt guten Abend zu sagen.
»Das habe ich Ihnen zu verdanken!« Die schmalen Schultern der Sängerin zuckten. »Bis
heute sehe ich ständig das Messer vor mir, wie es immer näher kommt, auf meinen Hals zu ... Ich kann nachts nicht schlafen deswegen. Singen auch nicht.«
»Dabei meinte ich gar nicht Herrn Knabe, sondern Herrn Klonow.« Bei dieser Entgegnung sah Fandorin Wanda tief in die großen grünen Augen. »Erzählen Sie mir ruhig etwas über diese bemerkenswerte Person.«
Wanda war erstaunt oder tat immerhin so.
»Klonow? Nikolai Klonow? Was hat denn der damit zu tun?«
»Das werden wir gleich klären.«
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich. Es brannte nur die mit einem grünen Schal verhüllte Tischlampe, wodurch das Zimmer wie eine Unterwasserwelt wirkte. Das Reich der Meerhexe! dachte Fandorin unwillkürlich, verscheuchte den unwillkommenen Gedanken jedoch sogleich.
»Erzählen Sie mir vom K-k-... Kaufmann erster Gilde Klonow.«
Wanda nahm ihm die nasse Jacke ab und legte sie auf den Boden, ohne sich zu sorgen, ob das ihrem flauschigen Perserteppich bekam.
»Er ist sehr attraktiv«, begann sie in träumerischem Ton, und Fandorin verspürte etwas wie einen Stich von Eifersucht, wozu es freilich keine Berechtigung gab. »Gelassen, selbstbewußt ... Ein guter Mensch, einer von den besten. Ein Mann, wie man ihn selten trifft. Mir zumindest sind solche kaum je untergekommen. Ihnen ähnelt er übrigens ein
bißchen«, fügte sie mit leisem Lächeln hinzu, was Fandorin aus der Fassung brachte: Sie behexte ihn schon wieder. »Aber ich verstehe nicht, wieso Sie sich für ihn interessieren?« »Er ist nicht der, für den er sich ausgibt. Er ist b-... beileibe kein Kaufmann.«
Wanda drehte den Kopf halb zur Seite, ihr Blick bekam etwas Verlorenes.
»Das wundert mich nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, daß jeder seine Geheimnisse hat. Nach Möglichkeit mische ich mich in fremde Angelegenheiten nicht ein.«
»Sie sind eine scharfsinnige Frau, Mademoiselle, sonst hätten Sie es in Ihrem ... Beruf nicht so weit gebracht.«
Fandorin geriet ob seiner etwas unglücklichen Formulierung in Verlegenheit.
»Ich frage mich, ob Sie nie gespürt haben, was von dem Mann für eine G-... Gefahr ausgeht?«
Jäh wandte die Sängerin sich ihm wieder zu.
»Doch, doch. Manchmal schon. Aber woher wollen Sie das wissen?«
»Ich habe schwerwiegende Gründe zu der Annahme, daß Klonow ein äußerst gefährlicher Mann ist«, erwiderte Fandorin ausweichend, und dann übergangslos: »War er es eigentlich, der Sie mit Sobolew bekanntgemacht hat?«
»Ach wo!« kam ebenso schnell die Antwort.
Vielleicht etwas zu schnell? Sie schien es gemerkt zu haben und suchte den Eindruck zu korrigieren.
»Jedenfalls hat er mit Sobolews Tod nicht das Geringste zu schaffen, das schwöre ich Ihnen! Alles hat sich genauso zugetragen, wie ich es Ihnen erzählt habe.«
Sie sagte gerade die Wahrheit - oder schien es zumindest zu glauben. Alle Anzeichen - die Modulation der Stimme, die Gesten, die Regungen der Gesichtsmuskeln - sprachen dafür. Es konnte im übrigen sein, daß an Frau Tolle eine vorzügliche Schauspielerin verlorengegangen war.
Fandorin änderte seine Taktik. Besteht der Verdacht, eine zu verhörende Person könnte Aufrichtigkeit vortäuschen, statt aufrichtig zu sein, empfiehlt es sich, eine Anzahl schneller, überraschender, eindeutige Antwort heischender Fragen auf sie niederhageln zu lassen. So lehren es die Meister der Kriminalpsychologie.
»Hat Klonow von Knabe gewußt?«
»Ja. Aber wieso ... «
»Hat er das Portefeuille erwähnt?«
»Was für ein Portefeuille?«
»Und Churtinski?«
»Wer soll das sein?«
»Trägt Klonow eine Waffe bei sich?«
»Ich glaube, ja. Aber das ist ja von Gesetz wegen nicht ver-«
»Treffen Sie sich noch manchmal mit ihm?« »Ja. Das heißt...«
Wanda wurde blaß, biß sich auf die Lippe. Fandorin wußte genau, was immer jetzt folgte, wäre gelogen, und bevor sie damit anfing, sprach er sie auf andere Weise an: betont ernst, eindringlich, geradezu beschwörend.
»Sie müssen mir sagen, wo er steckt. Sollte ich mich irren und er ist nicht der, für den ich ihn halte, wäre es für ihn um so wichtiger, den Verdacht von sich zu weisen. Sollte ich mich aber nicht irren, so ist er ganz anderer Art, als er Ihnen erscheint, ein Unhold. Und wenn ich seine Logik recht verstehe, wird er Sie nicht lebend davonkommen lassen, das ist nicht sein Stil. Daß Sie bis jetzt noch nicht in der Leichenkammer des Polizeireviers gelandet sind, finde ich erstaunlich genug. Ich bitte Sie, verraten Sie mir, wo ich Ihren Klonow finde!«
Sie schwieg.
»Kommen Sie.«
Fandorin ergriff ihre Hand. Die Hand war kalt, doch der Puls ging sehr schnell.
»Einmal habe ich Ihnen schon das Leben gerettet und würde es wieder tun. Ich schwöre Ihnen, wenn er kein Mörder ist, lasse ich ihn ungeschoren.«
Mit geweiteten Pupillen blickte Wanda auf den vor ihr sitzenden jungen Mann. Sie kämpfte mit sich, und Fandorin fiel nicht ein, was er noch in die Waagschale werfen sollte, um diesen Kampf für sich zu entscheiden. Während er noch fieberhaft überlegte, wurde Wandas Blick wieder fest: Ein Gedanke schien die Oberhand gewonnen zu haben, von dem Fandorin nichts wußte.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte die Sängerin bestimmt.
Fandorin stand unverzüglich auf und verbeugte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Wozu auch? Das Wichtigste war: Sie traf sich noch mit ihm. Um zum Ziel zu gelangen, genügte es, eine gründliche Observation in die Wege zu leiten.
Plötzlich blieb der Kollegienassessor stehen - mitten auf der Petrowka und ohne auf den Regen zu achten, der allerdings auch nicht mehr so heftig strömte wie vorhin.
Was denn für eine Observation? Zum Teufel! Er vergaß, daß er unter Hausarrest stand, fromm und brav im Hotel zu sitzen hatte. Er verfügte über keinerlei Gehilfen, und im Alleingang ließ sich eine ordentliche Beschattung nicht bewerkstelligen - fünf, sechs erfahrene Agenten waren das Minimum dafür.
Damit die Gedanken aufhörten, im Kreis zu gehen, klatschte Fandorin acht mal schnell hintereinander laut in die Hände. Die Passanten, versteckt unter ihren Regenschirmen, wichen dem Verrückten aus, um dessen Mund nun ein zufriedenes Lächeln spielte. Er hatte eine originelle Idee.