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Im »Dusseaux« angekommen, schritt er durch das weitläufige Vestibül sogleich zum Tresen.

»Hör mal her, mein Lieber«, wandte er sich in Chefmanier an den Portier, »du verbindest mich jetzt mit dem >Anglija< auf der Petrowka und läßt mich dann alleine, ich habe etwas Vertrauliches zu b-b-... besprechen.«

Der Portier, der genügend Gelegenheit gehabt hatte, sich an die Heimlichtuerei des stolzen Beamten aus N- 20 zu gewöhnen, verbeugte sich, fuhr mit dem Finger die an der Wand hängende Liste mit Telefonteilnehmern entlang, fand den richtigen und nahm das Hörrohr ab. Nach einer Weile reichte er es an Fandorin weiter.

»Das >Anglija<, der Herr, bitte schön.«

»Wer ist am Apparat?« hörte Fandorin es vom anderen Ende der Leitung krächzen. Auffordernd blickte Fandorin den Portier an, der sich daraufhin diskret in die entfernteste Ecke des Vestibüls zurückzog.

Nun erst sprach Fandorin, die Lippen an den Sprechtrichter gelegt: »Würden Sie bitte Frau Wanda zum Apparat bitten. Sagen Sie, Herr Klonow möchte sie dringend sprechen. Klonow, jawohl!«

Das Herz des Detektivs klopfte wild. Was ihm da eingefallen war, schien neu und geradezu empörend simpel zu sein. Das Telefonnetz, welches sich bei den Moskauern einer rasant gewachsenen Beliebtheit erfreute, war, bei allem Komfort, noch weit entfernt von technischer Perfektion. Den Sinn des Gesagten mitzubekommen gelang inzwischen zumeist, das Timbre und die Nuancen der menschlichen Stimme jedoch wurden von der Membran immer noch gnadenlos geschluckt. Bestenfalls ließ sich unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau sprach - und selbst das nicht immer. In den Zeitungen hatte gestanden, daß der große Erfinder Mr. Bell an der Konstruktion eines neuen Modells arbeitete,

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das den Klang weit besser reproduzieren sollte. Allein, auch die Unvollkommenheit hat ihre Reize, wie eine alte chinesische Weisheit besagt. Ein Fall, wo sich jemand am Telefon für einen anderen ausgegeben hatte, war Fandorin bislang nicht zu Ohren gekommen. Warum sollte man es nicht probieren?

Im Hörer erklang nun eine jaulende, von Knattern untermalte Stimme, die Wandas getragenem Alt nicht im entferntesten ähnelte: »Kolja, bist du es? Was für ein Glück, daß du mich ausgerechnet jetzt anrufst!«

Kolja? Du? Nanu!

Hastig, ganze Silben verschluckend, rief Wanda: »Kolja, du bist in Gefahr! Eben war ein Mann bei mir, der nach dir sucht!«

»Wer?« fragte Fandorin und hielt den Atem an. Gleich würde sie ihn verraten. Doch Wanda erwiderte ganz ungerührt: »Ein Detektiv. Ein sehr kluger und pfiffiger. Kolja, wenn du wüßtest, wie schrecklich er über dich geredet hat!«

»Alles Quatsch!« gab Fandorin knapp zurück. Konnte es sein, daß die Femme fatale in den Gendarmeriehauptmann erster Gilde ernsthaft verliebt war?

»Ach ja? Ich wußte es! Aber es hat mich trotzdem furchtbar aufgeregt! Kolja, warum telefonierst du mich an? Bleibt es nicht bei unserer Verabredung?«

Fandorin schwieg; ihm fiel nicht gleich ein, was er darauf sagen sollte.

»Was ist denn, treffen wir uns morgen-orgen?«

Ein Echo hallte durch die Leitung, und Fandorin mußte sich das andere Ohr zuhalten, Wandas überstürzte Rede war jetzt nur noch schwer zu verstehen.

»Du hast mir versprochen, nicht abzureisen-eisen, bevor du dich von mir verabschiedet hast! Wehe-ehe! Kolja, sag doch was-as! Fällt das Treffen aus?-aus?«

»Nein.« Fandorin nahm seinen Mut zusammen und formulierte einen längeren Satz. »Ich wollte mich nur vergewissern, ob du alles gut behalten hast.«

»Wie?! Was soll ich behalten haben-aben?«

Anscheinend hatte Wanda genauso Probleme, ihn zu verstehen, und das war ein Glück. »Wann und wo wir uns treffen!«

»Aber ja doch! Um sechs in der >Treue<, Zimmer sieben, Eingang vom Hof-of! ... Erst zweimal, dann dreimal, dann zweimal klopfen-opfen ... Oder geht es vielleicht ein bißchen später als sechs?-echs? ... Ich bin schon ewig nicht mehr so zeitig aufgestanden-anden!« »Na schön«, erdreistete sich Fandorin zu sagen, während er in Gedanken repetierte: sechs, sieben, zweimal, dreimal, zweimal. »Dann eben um sieben. Aber nicht später. Ich hab zu tun.« »Gut, um sieben!« rief Wanda. Echo und Knattern waren mit einem Mal verschwunden, ihre Stimme erklang jetzt sehr deutlich und war beinahe wiederzuerkennen. Freude war aus ihr herauszuhören, was Fandorin beschämte.

»Ich lege jetzt auf«, sagte er.

»Von wo telefonierst du denn? Wo bist du?«

Fandorin hängte das Hörrohr in die Gabel und drehte die Kurbel einmal herum. Die Telefonmystifikation war demnach ein Kinderspiel. Das war für die Zukunft gut zu wissen, wenn man nicht selbst angeschmiert werden wollte. Sollte man für jeden Teilnehmer eine extra Parole festlegen? Oder, wenn schon nicht für jeden, wenigstens für die Agenten oder allgemein für konfidentielle Zwecke?

Darüber konnte er später einmal nachdenken.

Den Hausarrest durfte er jetzt vergessen. Er hatte der Obrigkeit etwas vorzuweisen.

Klonow-Pewzow - bis jetzt nicht zu greifen, geradezu körperlos - würde morgen früh um sechs in einem Lokal mit Namen »Treue« anzutreffen sein. Fandorin hatte keine Ahnung, wo das war, und sowieso ließ es sich nicht vermeiden, Karatschenzew einzuweihen. Die Verhaftung mußte umsichtig erfolgen, nach allen Regeln der Kunst. Damit er nicht entwischte - geschickt, wie dieser Mann war.

Das Haus des Polizeipräsidenten auf dem Twerskoi galt als eine Moskauer Sehenswürdigkeit. Die bessere Gesellschaft, die den vornehmen Boulevard an heiteren Tagen entlangflanierte, schien sich von der amtlich gelben, zweistöckigen Fassade behütet zu fühlen, ihrem friedlichen, eleganten Zeitvertreib wurde gewissermaßen der Segen erteilt: Immer spaziert hier entlang, hochverehrte Herrschaften, auf dieser schlanken, europäischen Promenade, atmet den Duft der Lindenblüten und laßt euch nicht bekümmern von der schnaufenden Stadt, diesem asiatischen Moloch, wo es von ungezogenen, unaufgeklärten Leuten nur so wimmelt: Die Macht ist anwesend, sorgt für Zivilisation und Ordnung, schau her, hier ist sie! - und sie schläft nie.

Von letzterem durfte Fandorin sich überzeugen, als er kurz vor Mitternacht an der Tür der geschätzten Villa schellte. Kein Portier öffnete, sondern ein Gendarm mit Säbel und Revolver, der sich gewissenhaft anhörte, was des nächtlichen Besuchers Begehr war, und ihn, ohne einen Ton zu erwidern, auf der Schwelle warten ließ, nur eine elektrische Klingel betätigte, die den diensttuenden Adjutanten heranrief, welcher Fandorin glücklicherweise bekannt war: Hauptmann Swertschinski. Dieser erkannte in dem angelsächsisch ausstaffierten Herrn mit einiger Mühe den abgerissenen Bettler wieder, der am Morgen für soviel Aufruhr im Amt gesorgt hatte, und wurde die Liebenswürdigkeit in Person. Fandorin erfuhr, daß der General wie üblich vor dem Schlafengehen seinen Spaziergang auf dem Boulevard machte. Er liebte es, sich am Abend die Füße zu vertreten, und tat es bei jedem Wetter.

Fandorin begab sich zurück auf den Boulevard, lief ein Stück in Richtung des bronzenen Puschkin, und tatsächlich: Betulichen Schrittes kam die vertraute Gestalt im langen Kavalleriemantel mit in die Stirn gezogener Kapuze ihm entgegengelaufen. Doch kaum steuerte der Kollegienassessor auf den General zu, als zwei lautlose Schatten links und rechts von ihm wie aus dem Boden wuchsen, im Rücken des Polizeipräsidenten noch ein weiteres resolutes Schattenpaar. Fandorin schüttelte den Kopf. So sah sie aus, die Illusion von Intimität für einen Staatsmann in Zeiten des politischen Terrorismus! Rußland, was ist aus dir geworden!

Und schon hatten die Schatten den Kollegienassessor im Griff - nicht eben derb, aber fest. »Fandorin! Wenn man an ihn denkt, steht er vor einem!« rief Karatschenzew freudig und verwies seine Wächter barsch auf ihre Plätze. »Ich war wirklich gerade mit den Gedanken bei Ihnen. Der Arrestant hat es wohl zu Hauso nicht ausgehalten?«