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»Nun mal halblang!« Der Polizeipräsident verzog das Gesicht. »Von ihm haben wir ja immerhin einen Abschiedsbrief.«

»Hand aufs Herz, Euer Exzellenz: Hätten Sie einem Pjotr Churtinski zugetraut, sich selbst zu richten, nur weil Entlarvung drohte? Gab er so viel auf seine Ehre?«

»Das nun gerade nicht«, räumte Karatschenzew ein, der inzwischen ebenfalls aufgesprungen war und die Wand entlangwanderte. »Es hätte ihm ähnlicher gesehen, wenn er das Weite gesucht hätte. Den im Tresor aufgefundenen Papieren läßt sich entnehmen, daß er ein Konto bei einer Zürcher Bank hatte. Und wäre die Flucht fehlgeschlagen, hätte er immer noch um Gnade betteln und versuchen können, die Richter zu bestechen. Diese Sorte Mensch kenne ich gut, das sind zähe Leutchen. Vermutlich wäre Churtinski lieber in die Verbannung gegangen, als sich die Schlinge um den Hals zu ziehen. Aber daß er den Brief eigenhändig geschrieben hat, läßt sich wirklich nicht bezweifeln.«

»Am meisten erschreckt mich, daß in all diesen Fällen der Verdacht auf Mord entweder gar nicht erst aufkommt oder, wie bei Knabe und beim Kleinen Mischa, mit Vehemenz auf andere gelenkt wird - beim einen auf deutsche Agenten, beim anderen auf diese Fiska. Da steckt ein Meister seines Fachs dahinter. Nur eines verstehe ich nicht.«

Fandorins Augen wurden schmal.

»Wieso er ausgerechnet Wanda verschont hat... Apropos, Herr General, man sollte unverzüglich ein Kommando hinschicken und sie aus dem >Anglija< herausholen. Wenn es dumm kommt, telefoniert der echte Klonow bei ihr an. Oder, noch schlimmer, ihm fällt ein, seine unerklärliche Nachlässigkeit in diesem Punkt zu korrigieren.«

»Swertschinski!« brüllte der General und ging ins Vorzimmer hinaus, um Order zu erlassen. Als er zurückkehrte, stand Fandorin vor dem Stadtplan an der Wand und fuhr mit dem Finger darauf entlang.

»Die >Treue<, wo ist denn das?« fragte er.

»Das ist die >Herberge zur Treue<, ein Quartier auf der Pokrowka, in der Nähe der

Trinitatiskirche. Hier!« Der General zeigte es. »Chochlowski Pereulok. Es war früher einmal eine Klosterherberge, jetzt ist da ein höhlenartiges Labyrinth aus Hinterhäusern, Schuppen und Baracken. Im Volksmund kurz >die Treue< genannt. Keine gute Gegend, bis zur Chitrowka ist es ja auch nur ein Katzensprung. Wobei das dort wohnende Publikum noch nicht gänzlich auf den Hund gekommen ist. Allerlei Theatervolk, Modistinnen, frisch ruinierte Kaufleute. Lange bleibt dort keiner hängen: Entweder er rappelt sich wieder hoch, oder er sackt noch tiefer, in den Pfuhl der Chitrowka.«

Während der Polizeipräsident auf Fandorins schlichte Frage so ausschweifend antwortete, schien er mit den Gedanken woanders zu sein; man sah ihm die Unschlüssigkeit an. Als er geendet hatte, entstand eine Pause. Fandorin verstand, daß die Unterredung in ihre entscheidende Phase trat.

»Es wäre durchaus ein riskanter Schritt, Euer Exzellenz«, sagte er leise. »Ich weiß, sollten meine Mutmaßungen in die Irre gehen, könnte Sie das die K-... Karriere kosten, und das täte Ihrem Ehrgeiz gar nicht gut. Aber eben darum bin ich zu Ihnen gekommen und nicht zum Fürsten, weil der bestimmt nichts riskieren möchte. Er ist allzu vorsichtig - vermutlich eine Frage des Alters. Andererseits ist seine Situation weniger heikel als die Ihre. Immerhin hat das Ministerium hinter Ihrem Rücken eine Intrige gesponnen, in der Ihnen, mit Verlaub, die Rolle des D-... Deppen im Spiel zugewiesen ist. Graf Tolstow hielt es nicht für nötig, Sie als Oberhaupt der Moskauer Polizei in den Kasus Sobolew einzuweihen, wohingegen er Churtinski, einen charakterlich fragwürdigen und sogar kriminellen Menschen, ins Vertrauen zog. Da hat ein noch Schlauerer, als der Minister es ist, die Fäden gezogen. Sie waren bei diesen Vorgängen außen vor, doch die Verantwortung liegt letztlich bei Ihnen. Ich fürchte, die Rechnung für das D-... Debakel werden Sie zu zahlen haben. Und was das Ärgste ist: Sie werden nicht einmal erfahren, wer es eigentlich verzapft hat und zu welchem Zweck. Um auf den Grund der Intrige vorzustoßen, müssen wir Klonow schnappen. Dann haben Sie den Joker in der Hand.«

»Und falls er doch ein Regierungsagent ist, fliege ich in hohem Bogen aus dem Amt. In den Ruhestand, gelindestenfalls«, entgegnete Karatschenzew knurrend.

»Die Sache wird sich ohnehin nicht vertuschen lassen, Euer Exzellenz, und das aus gutem Grund. Nicht so sehr Sobolews wegen, sondern weil wir uns ernstlich fragen müssen: Was ist das für eine geheimnisvolle Macht, die über Rußlands Schicksal verfügen will? Woher nimmt sie sich das Recht? Und was gedenkt diese Macht morgen zu tun?«

»Spielen Sie auf die Freimaurer an?« fragte der General verwundert. »Graf Tolstow ist Bruder in einer Loge, und Ministerialdirektor Plewako ist es auch. Von den einflußreichen Leuten in Sankt Petersburg ist beinahe jeder zweite Freimaurer. Aber die haben einen politischen Mord nicht nötig, die können auch so jedem die Hölle heiß machen, von Rechts wegen.«

»Vergessen Sie die Freimaurer!« Angeödet legte Fandorin die glatte Stirn in Falten. »Die sind doch Schnee von gestern. Hier geht es um ein handfestes Komplott, keine Operettenintrige. Falls wir Erfolg haben, Euer Exzellenz, b-... bekommen Sie den Schlüssel zu Aladins Höhle in die Hand. Dann wird Ihnen Hören und Sehen vergehen.«

Die roten Brauen des Generals zappelten erregt. Es war verlockend, sehr verlockend. Plewako, diesem Judas (so etwas nennt sich Kollege!), und dem Grafen Tolstow persönlich könnte man einen großartigen Denkzettel verpassen: daß mit Karatschenzew nicht zu spaßen ist. Daß der sich nicht zum Affen machen läßt. Wer anderen eine Grube gräbt, meine Herren. Eine Bande Verschwörer diskret ins Visier zu nehmen - dagegen ist nichts einzuwenden, eine solche Sache erfordert Fingerspitzengefühl. Aber zuzuschauen, wie einem Volkshelden der Garaus gemacht wird - das ist ein Skandal. Da haben sie geschlafen, die Petersburger Schlaumeier. Die sollen sich jetzt die Haare raufen und zittern in ihren Sesseln. General Karatschenzew serviert ihnen das Täubchen auf dem Tablett: Hier habt ihr ihn, den Übeltäter. Oder sollte er ihn gleich eine Etage höher servieren? Hm. Was für eine Sache!...

Vor dem inneren Auge des Polizeipräsidenten eröffneten sich derart verheißungsvolle Horizonte, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug. Zugleich aber wurde ihm im Magen flau. Vor Angst.

»Gesetzt den Fall«, begann Karatschenzew vorsichtig, »wir verhaften diesen Klonow. Der aber bleibt stumm wie ein Fisch. Weil er auf seine Hintermänner rechnen kann. Was machen wir dann?«

»Das ist eine sehr berechtigte Frage.«

Fandorin nickte. Sein Frohlocken darüber, daß das Gespräch aus dem Stadium der Theorie in praktische Bereiche überzugehen schien, ließ er sich nicht anmerken.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Klonow zu fassen wird schwierig genug sein, ihn zum Reden zu bringen noch tausendmal schwieriger. Darum hätte ich einen Vorschlag zu machen.«

Der General spitzte die Ohren. Die Erfahrung sagte ihm, daß der gewitzte junge Mann keine Torheiten vorschlug und außerdem den schwierigsten Teil der Arbeit selbst übernahm.