»Ihre Leute umstellen das Quartier von allen Seiten. So dicht, daß keine Kakerlake durchschlüpfen kann.«
Fandorins Blick klebte am Stadtplan.
»Hier eine Postenkette, hier und hier. Die Hofpassagen im ganzen B-... Bezirk sind abzuriegeln, das dürfte um die Zeit kein Problem sein, da schlafen die meisten noch. Ein paar gute Agenten direkt vor die Herberge - drei, vier, nicht mehr. Die sollen äußerst behutsam vorgehen, gut getarnt, damit um Himmels willen kein Verdacht erregt wird. Sie haben nur auf mein Signal zu warten. Ich g-g-... gehe rein zu ihm und spiele mit ihm ein offenes Spiel. Daß er sofort auf mich losgeht, ist unwahrscheinlich - er wird erst einmal herauskriegen wollen, woher ich komme, wieviel ich weiß und was ich will. Wir könnten einen feschen Pas de deux miteinander tanzen: Ich lupfe den Vorhang für ihn ein bißchen, und er erzählt mir ein bißchen was, dann wieder ich, dann wieder er. In dem Glauben, mich jederzeit ausschalten zu können, dürfte er mehr aus sich herausgehen, als wenn er in Untersuchungshaft säße ... Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«
»Aber das ist doch ein Vabanquespiel!« sagte Karatschenzew. »Wenn er ein so virtuoser Totschläger ist, wie Sie sagen, dann wird er, ehe Sie sich versehen ...«
Fandorin zuckte leichtfertig mit den Schultern.
»Wie Konfuzius sagte, muß der vornehme Mann für seine Fehler selbst die Verantwortung tragen.«
»Na schön. In Gottes Namen. Es ist ein tollkühnes Stück. Wer wagt, gewinnt.«
Die Stimme des Generals bebte vor Mitgefühl, während er Fandorin kräftig die Hand drückte.
»Gehen Sie in Ihr Hotel, Fandorin, und schlafen Sie sich richtig aus. Keine Sorge, ich werde die Operation persönlich vorbereiten. Alles wird im Lot sein. Wenn Sie morgen früh zur >Treue< kommen, werden Sie sehen, wie gut sich meine Jungs tarnen können.«
»Sie sind ja wie die weise Wassilissa im Märchen, Euer Exzellenz!« sagte Fandorin mit strahlendem Lächeln. »Schlaf, mein Prinz, schlaf ruhig ein, morgen werden wir schlauer sein! Aber Sie haben recht, ich bin tatsächlich ein bißchen müde, und der morgige Tag wird hart. Morgen früh pünktlich um sechs bin ich in der Herberge. Das Signal, mit dem ich Ihre Leute zu Hilfe rufe, wird ein Pfiff sein. Vorher will ich keinen seine Nase hereinstecken sehen. Ja, und ... Falls etwas passiert... Lassen Sie ihn nicht entwischen! Das wäre meine p-p-... persönliche Bitte an Sie, Herr General.«
»Seien Sie unbesorgt«, erwiderte der General ernst, Fandorins Hand immer noch in der seinen haltend. »Alles wird auf das exakteste erledigt. Ich entsende meine besten Agenten, besser einen zuviel als zuwenig. Dafür darf ich Sie Draufgänger bitten, um so vorsichtiger zu sein.«
Schon vor langer Zeit hatte Fandorin es sich antrainiert, exakt zu der am Vorabend festgelegten Zeit zu erwachen. Darum schlug er Punkt fünf die Augen auf und mußte lächeln: Just in diesem Moment lugte der äußerste Sonnenrand über die Fensterbank - man hätte meinen können, ein runder, rosiger Kahlkopf stünde unter dem Fenster.
Eine Arie aus dem »Liebestrank« pfeifend, stand Fandorin vor dem Spiegel und verguckte sich beim Rasieren wieder einmal in sein, wie er doch fand, bemerkenswert schönes Gesicht. Weil es sich für einen Samurai verbot, vor dem Kampf zu frühstücken, nahm sich Fandorin anstelle des Morgenkaffees für ein paar Minuten die Hanteln vor; anschließend befaßte er sich in aller Ruhe mit seiner Ausrüstung für den Tag. Dabei wählte er das komplette Arsenal. Schließlich hatte er es mit einem ernsthaften Gegner zu tun.
Masa, der seinem Herrn beim Anlegen der Waffen half, wurde zunehmend unruhig. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten.
»Euer Gesicht verrät mir, daß Ihr dem Tod ins Auge seht, Herr.«
»Du weißt doch, ein echter Samurai muß jeden Morgen aufstehen und zum Sterben bereit sein«, scherzte Fandorin, während er sein helles Jackett aus Rohseide anzog.
»In Japan habt Ihr mich immer mitgenommen«, beklagte sich der Diener. »Ich weiß, ich habe Euch zweimal schmählich im Stich gelassen, doch es wird nie wieder vorkommen, das schwöre ich. Sonst will ich im nächsten Leben als Meduse geboren sein! Nehmt mich mit, Herr. Ich bitte Euch sehr.«
Fandorin stupste ihn zärtlich bei der kleinen Nase.
»Diesmal kann ich dich wirklich nicht gebrauchen, Masa. Ich muß allein sein. Und außerdem bin ich gar nicht allein, da ist noch ein ganzes Heer Polizisten. Allein sein wird nur mein Gegner.«
»Ist er gefährlich?«
»Sehr. Derselbe, der dir das Portefeuille abgeluchst hat.« Masa blies die Backen auf, zog die schütteren Brauen zusammen und sagte weiter nichts.
Fandorin hatte beschlossen, den Weg bis zur Pokrowka zu Fuß zu gehen. Wie schön Moskau nach dem Regen doch war! Diese Frische, dieser rosa Flor des anbrechenden Tages, diese Stille. Wenn einer schon sterben muß, dann an solch einem göttlichen Morgen! dachte der junge Detektiv - und schalt sich im selben Moment seines Hangs zur Melodramatik. Pfeifend, im gemächlichen Spazierschritt, gelangte er auf den Lubjanskaja Ploschtschad, wo die Fuhrleute am Springbrunnen ihre Pferde tränkten. Beim Einbiegen in die Soljanka sog er den Duft frischen Brotes ein, der aus den geöffneten Fenstern einer Bäckerei im Souterrain heraufdrang.
Und da war auch schon die Querstraße, in die er hinein mußte. Die Häuser wurden ärmlicher, die Trottoire schmaler, kurz vor der »Treue« war endgültig jede Idylle abhanden gekommen: tiefe Pfützen im Pflaster, schiefe Zäune, verwitterte Mauern. Eine Polizeisperre konnte Fandorin trotz aller Aufmerksamkeit nicht entdecken, und das freute ihn sehr.
Vor dem Hofeingang sah Fandorin auf die Uhr - fünf vor sechs. Genau richtig. Ein hölzernes Tor, daran ein verrutschtes Schild: Herberge zur Treue. Die Gebäude durchweg einstöckig, jedes Zimmer mit separatem Eingang. Dort vorn begann es mit N- 1 und ging bis NQ 6. Links um die Ecke mußte Ns 7 kommen.
Hauptsache, Klonow eröffnete das Feuer nicht sofort und ohne mit sich reden zu lassen. Man mußte irgendeinen ersten Satz parat haben, der ihn irritierte. Zum Beispieclass="underline" »Mademoiselle Wanda läßt grüßen.« Oder, noch raffinierter: »Wußten Sie, daß Sobolew gar nicht tot ist?« Nur nicht die Initiative aus der Hand geben. Das Weitere je nach Gespür. Er fühlte, wie das Gewicht des Herstal das Futter seiner Jacketttasche straffte. Ein beruhigendes Gefühl.
Entschlossen trat Fandorin durch das Tor. Ein Hauswart im schmutzigen Kittel schob träge den Besen durch eine Pfütze. Mürrisch musterte er den eleganten Herrn, und Fandorin zwinkerte ihm verstohlen zu. Ein überzeugender Hauswart, nicht zu bemäkeln. Beim Tor saß noch ein Agent und mimte den Betrunkenen: schnarchend, die Mütze ins Gesicht gezogen. Auch nicht schlecht. Und mit einem Blick über die Schulter sah Fandorin nun gar
ein pausbäckiges Weiblein mit Kopftuch bis knapp über die Augen, in einem
unförmigen Kittelkleid die Straße entlangtrippeln. Etwas zuviel des Guten! dachte sich Fandorin und schüttelte den Kopf. Das roch schon nach Schmierenkomödie.
N- 7 war tatsächlich die erste Tür hinter der Ecke, auf der Hofseite. Eine flache Vortreppe, zwei Stufen. Die Zimmernummer war mit weißer Ölfarbe an die Tür gemalt.
Fandorin blieb stehen, atmete tief ein und gab die Luft in kleinen, rhythmischen Stößen wieder von sich.
Dann hob er die Hand und klopfte leise an.
Zweimal, dreimal und noch zweimal.
ZWEITER TEIL
AHIMAAZ
SKIROWSK
1
Der Vater hieß Pelet, was auf althebräisch Flucht bedeutet. Im Jahr seiner Geburt ereilte die »Brüder Christi«, die zwei mal hundert Jahre in Mähren gelebt hatten, ein Unglück. Der Kaiser schaffte das Privileg ab, welches die Gemeinde vom Militärdienst befreite, weil er neuerdings einen großen Krieg gegen einen anderen Kaiser führte und viele Soldaten brauchte.