Land und Hof im Stich lassend, brach die Gemeinde eines Nachts auf und zog nach Preußen. Den »Brüdern Christi« war es gleich, was die Kaiser miteinander hatten; ihr strenger Glaube untersagte ihnen, irdischen Herrschern zu dienen, ihnen den Treueeid zu schwören, eine Waffe in die Hand zu nehmen und die Uniform mit den Wappenknöpfen zu tragen, die nichts anderes waren als Abdrücke des Satanssiegels. Weshalb die Brüder an ihren langen, braunen Kamisolen, deren Zuschnitt sich in über zwei Jahrhunderten nicht verändert hatte, keine Knöpfe trugen, sondern Schnüre.
In Preußen gab es Glaubensgenossen. Die hatte es vor langer Zeit, gleichfalls auf der Flucht vor dem Antichristen, nach hier verschlagen. Dazumal hatte der König ihnen Land in festen Besitz gegeben und sie vom Kriegsdienst befreit - mit der Auflage, die endlosen preußischen Sümpfe trockenzulegen. Über zwei Generationen kämpften die Brüder wider den unwegsamen Morast, in der dritten bezwangen sie ihn und begannen auf dem humusreichen Land ein sattes und freies Leben zu führen. Die mährischen Glaubensbrüder wurden freudig empfangen, man teilte mit ihnen, was da war, und lebte zusammen in Eintracht und Güte.
Mit einundzwanzig heiratete Pelet. Gott gab ihm eine gute Frau, und die gebar nach gebührender Zeit einen Sohn. Bald darauf jedoch beschloß Gott der Allmächtige, seine treuen Diener schweren Prüfungen zu unterziehen. Zuerst kam eine Seuche über sie, an der viele starben, darunter Pelets Frau und sein Sohn. Er murrte nicht, auch wenn das Leben seine Farbe geändert hatte und aus Weiß Schwarz geworden war. Doch das schien dem Allmächtigen nicht genug zu sein, Er wollte die
Auserwählten Seine Liebe in ihrer ganzen, rauhen Unerbittlichkeit spüren lassen. Also hatte ein neuer, aufgeklärter König verfügt, in seinem Staate seien alle gleich, und das von einem anderen, früheren König erlassene Gesetz wurde abgeschafft. Nunmehr hatten auch Juden, Mennoniten und »Brüder Christi« in der Armee zu dienen und ihr Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Doch befand sich der Brüder Vaterland nun einmal nicht inmitten trockengelegter preußischer Sümpfe, sondern im Himmel, weshalb der Konvent der geistigen Führer zusammentrat und befand, man müsse gen Osten ziehen, ins Land des russischen Zaren. Dort gab es auch eine Gemeinde, von der kamen manchmal Briefe, die lange unterwegs waren, per verläßlichen Boten, denn die amtliche Post war des Teufels. In den Briefen schrieben die Glaubensbrüder, der Boden bei ihnen sei fett, die Obrigkeit entgegenkommend und mit einer geringen Abgabe zufrieden.
Sie packten das Allernötigste, verkauften, was zu verkaufen ging, und ließen das Übrige zurück. Siebenmal sieben Tage waren sie mit Karren unterwegs, bis sie in ein Land kamen, das den schwierigen Namen Melitopolschtschina trug und wo es tatsächlich einen fetten Boden gab. Aber zwölf junge Familien und mit ihnen der Witwer Pelet beschlossen weiterzuziehen, da sie noch nie Berge zu Gesicht bekommen, immer nur in ihren heiligen Schriften davon gelesen hatten. Sie wußten sich nicht vorzustellen, wie es sein konnte, daß das Festland sich viele Tausend Ellen weit in den Himmel erhob und an das Reich des Herrn in den Wolken stieß. Die jungen Leute begehrten es zu sehen, und Pelet war es einerlei. Ihm gefiel es, auf dem Leiterwagen mit den vorgespannten Stieren durch Wälder und Felder zu fahren, denn es lenkte ihn ab von den Gedanken an Rahel und den kleinen Ahava, die für immer in der nassen preußischen Erde geblieben waren.
Die Berge waren haargenau so, wie sie in den Büchern beschrieben standen. Ihr Name war Kaukasus, und sie dehnten sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte. Pelet vergaß Rahel und Ahava, denn hier war alles anders, selbst das Gehen: Man ging von oben nach unten und von unten nach oben. Gleich im ersten Jahr heiratete er.
Und das kam so: Die »Brüder Christi« waren dabei, den Wald an dem einzigen Hang, der etwas flacher war, einzuschlagen und das Feld für den Pflug vorzubereiten. Die Mädchen aus der Nachbarschaft sahen zu, wie die fremden Männer in ihren komischen langen Gewändern geschwinde die jahrhundertealten Kiefern fällten und die zähen Stümpfe rodeten. Die Mädchen lachten und knackten Nüsse dabei. Eines von ihnen, die fünfzehnjährige Tetima, verguckte sich in den Hünen mit den weißen Haaren und dem weißen Bart. Er war mächtig, aber sanft und gut, ganz anders als die Männer in ihrem Aul, die hitzig und in ihren Bewegungen fahrig waren.
Tetima mußte sich taufen lassen und andere Kleidung tragen -ein schwarzes Kleid und eine weiße Haube. Sie mußte ihren Namen wechseln, aus Tetima wurde Sarah, sie mußte von früh bis spät in Haus und Hof arbeiten, die fremde Sprache erlernen,
und den ganzen Sonntag über mußte sie Andacht halten und im Gebetshaus, das noch vor den anderen Häusern gezimmert worden war, singen und beten. Aber all dies konnte Tetima nicht schrecken, denn sie fühlte sich wohl bei dem weißhaarigen Pelet, und Allah hatte den Frauen ohnehin kein leichtes Leben versprochen.
Den Sommer darauf, als Sarah-Tetima in den Wehen lag, kamen die kriegerischen Tschetschenen von den Bergen herab, zündeten die Weizenernte an und trieben das Vieh von dannen. Pelet sah zu, wie sie das Pferd wegführten, die zwei Stiere und die drei Kühe, sprach ein Gebet, der Herr möge ihn nicht verlassen, und gab seinem Zorn nicht freien Lauf. Und also taufte der Vater seinen Sohn, dessen erster Schrei just in dem Moment ertönte, da über die glattgehobelten Wände des Gebetshauses die gierigen Flammen züngelten, auf den Namen Ahimaaz, was bedeutet: Bruder des Zorns.
Übers Jahr kamen die Räuber erneut, mußten aber ohne Beute wieder abziehen, denn am Rande des fertiggebauten Dorfes stand ein Blockhaus, worin ein Feldwebel und zehn Soldaten kampierten. Dafür hatte die Bruderschaft dem Militärgouverneur fünfhundert Rubel bezahlt.
Der Junge war bei seiner Geburt sehr groß. Sarah-Tetima hätte es beinahe nicht überlebt, als er aus ihr hervorkam. Sie konnte danach keine Kinder mehr bekommen. Und sie hätte es auch nicht gewollt, da sie ihrem Mann nicht verzeihen konnte, daß er dagestanden und zugesehen hatte, wie die Räuber Pferd, Stiere und Kühe entführten.
Als Kind hatte Ahimaaz zwei Götter und drei Sprachen zur Verfügung. Der Gott des Vaters, der streng war und nachtragend, lehrte: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm die linke hin; wer sich dieses Lebens freut, wird des kommenden gram sein; Kummer und Leid soll man nicht fürchten, denn sie sind eine Wohltat, ein Zeichen besonderer Liebe des Allmächtigen. Der Gott der Mutter hingegen, über den man nicht laut sprechen durfte, war lieb und gut: Er erlaubte, Freude zu zeigen, zu spielen, und er befahl nicht, Kränkungen von anderen durchgehen zu lassen. Nur flüstern durfte man über den lieben Gott und nur, wenn außer der Mutter niemand in der Nähe war, was bedeutete, daß der Gott des Vaters die Oberhand hatte. Er bediente sich einer Sprache, welche DIE SPRACHE hieß und ein Gemisch aus Deutsch und Holländisch war. Der Gott der Mutter sprach tschetschenisch. Außerdem gab es noch die russische Sprache, die Ahimaaz von den Soldaten im Blockhaus beigebracht bekam. Der Junge fühlte sich angezogen von deren Schwertern und Gewehren, aber das war untersagt, streng untersagt, der Obergott verbot es, eine Waffe anzurühren. Während die Mutter es ihm im Flüsterton erlaubte: Mach nur, Junge, es ist gut. Manchmal führte sie den Sohn in den Wald, erzählte von den kühnen Kriegern ihres Stammes und zeigte ihm, wie man ein Bein stellt und einen Fausthieb austeilt.
Als Ahimaaz sieben war, spritzte ihm der neunjährige Melchisedek, Sohn des Schmieds, mit Absicht Tinte über die Fibel. Ahimaaz stellte dem bösen Buben ein
Bein und hieb ihm die Faust aufs Ohr. Heulend lief Melchisedek nach Hause, um zu petzen.
Das sich anschließende Gespräch mit dem Vater war lang und quälend. Pelets Augen, die hell waren wie die seines Sohnes, füllten sich mit Zorn und Trauer. Den ganzen Abend mußte Ahimaaz auf den Knien hocken und Psalmen lesen. Doch waren seine Gedanken nicht beim Gott des Vaters, sondern bei dem der Mutter. Er betete zu ihm, daß seine Augen sich schwarz färben möchten wie die der Mutter und die ihres Stiefbruders Hassan. Zwar hatte Ahimaaz seinen Onkel Hassan nie gesehen, doch daß er stark, tapfer, siegreich und unnachsichtig gegenüber seinen Feinden war, wußte er. Der Onkel brachte über die geheimen Bergpfade flauschige Teppiche aus Persien herüber und Ballen von Tabak aus der Türkei, auf dem Rückweg schaffte er Waffen über die Grenze. Ahimaaz mußte oft an Hassan denken. Er stellte sich ihn vor, wie er im Sattel saß und den wachsamen Blick über die Felsspalten wandern ließ, ob da nicht vielleicht ein Trupp Grenzwächter im Hinterhalt saß. Hassan trug eine zottige Papacha-Pelzmütze, eine Burka aus Filz um die Schultern und darüber ein Gewehr mit schön verziertem Kolben.