Выбрать главу

2

An dem Tag, als Ahimaaz zehn Jahre alt wurde, saß er von morgens an im Holzschuppen hinter Schloß und Riegel. Er war selbst daran schuld: Die Mutter hatte ihm heimlich einen Dolch geschenkt - nicht groß, aber echt, mit polierter Klinge, das Heft aus Horn - und zu verstecken befohlen, doch Ahimaaz hatte nichts Eiligeres zu tun, als auf den Hof zu rennen und die Schärfe der Klinge auszuprobieren; dabei war er vom Vater erwischt worden. Pelet wollte wissen, wo er das Messer herhatte, und als er merkte, daß mit keiner Antwort zu rechnen war, ließ er den Sohn büßen.

Den halben Tag brachte Ahimaaz im Schuppen zu. Um den weggenommenen Dolch tat es ihm schrecklich leid, außerdem langweilte er sich. Am Nachmittag - er hatte inzwischen mächtigen Hunger - ertönten auf einmal Schüsse und Schreie.

Der Räuber Mahoma mit vieren seiner Kumpanen hatte die Soldaten überfallen, die gerade dabei waren, im Bach ihre Hemden zu waschen, denn es war Badetag. Die Angreifer schössen eine Salve aus den Büschen, töteten zwei Soldaten, verwundeten zwei weitere schwer. Die übrigen Soldaten rannten zum Blockhaus, wurden jedoch von den Kaukasiern abgefangen und mit dem Säbel niedergemacht. Der Feldwebel, der nie mit zum Bach ging, hatte sich in dem wuchtigen Holzhaus mit den schmalen Fensterluken verschanzt und schoß aus seiner Flinte. Mahoma wartete, bis der Russe mit Nachladen fertig war und sich wieder hinter der Schießscharte zeigte, nutzte die Zeit zum Zielen und traf den Feldwebel mit einer schweren Kugel mitten in die Stirn.

All dies hatte Ahimaaz nicht gesehen. Sehen konnte er, an einer Ritze zwischen zwei Planken klebend, wie ein bärtiger einäugiger Mann in zottiger weißer Papacha und mit einer langläufigen Flinte in der Hand den Hof betrat - Mahoma. Er sagte etwas zu den Eltern, die aus dem Haus geeilt kamen; Ahimaaz verstand nicht, was. Dann packte er die Mutter mit der einen Hand bei der Schulter, mit der anderen beim Kinn und zwang sie, das Gesicht zu heben. Pelet stand da, den Löwenkopf gesenkt, und bewegte die Lippen. Er betet! dachte Ahimaaz. Sarah-Tetima betete nicht, sie fletschte die Zähne und zerkratzte dem Einäugigen mit den Fingern das Gesicht.

Weil aber eine Frau das Gesicht des Mannes nicht berühren darf, wischte Mahoma sich das Blut von der Wange und erschlug die Gottlose mit einem Fausthieb gegen die Schläfe. Anschließend tötete er ihren Mann, denn auch der durfte nach einem solchen Frevel nicht weiterleben. Ebenso mußten alle übrigen Dorfbewohner sterben - das Schicksal hatte es so gewollt.

Die Räuber trieben das Vieh zusammen, alles nützliche und kostbare Gut wurde auf zwei Karren geladen und das Dorf von vier Seiten her angezündet. Dann zogen sie ab.

Während die Dorfbewohner von den Tschetschenen gemeuchelt wurden, saß Ahimaaz mucksmäuschenstill im Schuppen. Er wollte nicht auch totgeschlagen werden. Erst als das Hufgetrappel und das Räderrattern sich in Richtung Karamyk-Paß entfernt hatten, rammte er mit der Schulter ein Brett aus der Schuppenwand und sprang auf den Hof hinaus. Im Schuppen hätte er ohnehin nicht länger bleiben können, denn die Rückwand hatte schon Feuer gefangen, grauer Rauch kam durch die Ritzen gequollen.

Die Mutter lag auf dem Rücken. Ahimaaz hockte sich neben sie, berührte den blauen Fleck zwischen Auge und Ohr. Die Mutter sah aus, als lebte sie - nur daß sie, statt Ahimaaz anzuschauen, in den Himmel blickte. Der war für Sarah-Tetima wichtiger geworden als der leibliche Sohn. Wie konnte es auch anders sein, dort war ja ihr Gott. Ahimaaz beugte sich über den Vater, doch dessen Augen waren geschlossen, und der Bart war nicht mehr weiß, sondern rot. Als der Junge mit den Fingern darüber wischte, färbten sie sich ebenso.

Einen Hof nach dem anderen suchte Ahimaaz auf. Überall lagen tote Frauen,

Männer und Kinder. Ahimaaz kannte sie allesamt gut, doch sie erkannten ihn nicht mehr. Die, die er gekannt hatte, waren in Wirklichkeit gar nicht mehr da. Er war übrig. Ahimaaz befragte erst den einen Gott und dann den anderen, was er jetzt tun sollte. Anschließend wartete er. Es kam keine Antwort.

Ringsum stand alles in Flammen. Im Gebetshaus, das gleichzeitig Schule war, rumpelte es, und eine dicke Rauchwolke schoß empor - das Dach war eingestürzt. Ahimaaz sah sich nach allen Seiten um. Er sah die Berge, den Himmel, die brennenden Felder und nirgends eine Menschenseele. In diesem Augenblick begriff er: So würde es von nun an immer sein. Er war allein und mußte selbst entscheiden, ob er bleiben oder gehen, sterben oder leben wollte.

Er horchte in sich hinein, sog den Brandgeruch ein und rannte zur Straße, die hinauf auf einen Bergsattel und von da ins weite Tal hinunter führte.

Er lief den Rest des Tages und die ganze Nacht. Im Morgengrauen sank er in den Straßengraben. Sein Hunger war groß, die Müdigkeit noch größer, und Ahimaaz schlief ein. Der Hunger weckte ihn. Die Sonne stand im Zenit. Er lief weiter und erreichte gegen Abend eine Kosakensiedlung.

Gurkenbeete zogen sich die Einfriedung entlang. Ahimaaz blickte sich um, es war niemand da. Früher wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, fremdes Gut an sich zu nehmen, denn der Gott des Vaters gebot: Du sollst nicht stehlen. Doch inzwischen gab es den Vater nicht mehr, seinen Gott ebensowenig, und Ahimaaz ließ sich auf alle viere nieder, um die knackigen, warzigen Gurkenfrüchte in sich hineinzuschlingen. Erde knirschte ihm zwischen den Zähnen, so daß er nicht hörte, wie der Besitzer der Beete, ein breitschultriger Kosake in weichen Stiefeln, sich von hinten anschlich. Er packte Ahimaaz beim Kragen und ließ ein paarmal die Peitsche auf ihn niedersausen. »Du Dieb, du Dieb!« rief er dabei. Der Junge weinte nicht, bettelte nicht um Gnade, stumm sah er ihn von unten her aus hellen Wolfsaugen an. Das brachte den Mann erst richtig in Rage, er verprügelte den kleinen Wolf aus Leibeskräften, bis dieser einen grünen Gurkenbrei erbrach. Da zog er ihn am Ohr auf die Füße, zerrte ihn zur Straße und gab ihm einen Tritt.

Ahimaaz trollte sich und dachte: Der Vater ist tot, aber sein Gott scheint am Leben und dessen Gebote scheinen gültig zu sein. Rücken und Schultern brannten wie Feuer, aber noch ärger brannte es in ihm drinnen.

An einem munter sprudelnden Flüßchen begegnete Ahimaaz einem Jungen: größer als er, um die vierzehn vielleicht. Der Kosakenbengel hatte einen kleinen Laib Graubrot und einen Topf Milch dabei.

»Gib her!« sagte Ahimaaz und entriß ihm das Brot.

Der Junge stellte den Topf ab und gab Ahimaaz eins mit der Faust auf die Nase. Seine Augen sprühten Funken dabei. Ahimaaz fiel hin, und der Junge, kräftiger als er, setzte sich rittlings auf ihn, begann auf seinen Kopf einzuschlagen. Da griff Ahimaaz nach einem in der Nähe liegenden Stein und hieb ihn dem jungen Kosaken gegen die Braue. Der Junge rollte zur Seite, bedeckte das Gesicht mit den Händen und fing an zu flennen. Ahimaaz hatte den Stein schon zum nächsten Schlag erhoben, als ihm Gottes Gebot einfiel, das da lautete: Du sollst nicht töten. Und er tötete nicht. Der Milchtopf war während des Kampfes umgefallen, die Milch verschüttet, aber Ahimaaz hatte das Brot. Er ging die Straße weiter und aß. Er hörte nicht auf zu essen, bis der letzte Krümel vertilgt war.