Daß er nicht auf Gott hätte hören und den Jungen lieber totschlagen sollen, begriff Ahimaaz, als er - es dämmerte schon - von zwei Reitern eingefangen wurde. Einer von ihnen, eine blaugeränderte Uniformmütze auf dem Kopf, hatte den Kosakenjungen hinter sich sitzen, dessen Gesicht von einem Bluterguß geschwollen war.
»Da ist er, Onkel Kondrat!« brüllte der Knabe. »Das ist er, der Mörder!«
Die Nacht verbrachte Ahimaaz im Karzer. Er konnte hören, wie Unteroffizier Kondrat und Wachsoldat Kowaltschuk über sein Schicksal verhandelten. Ahimaaz hatte kein Wort zu ihnen gesprochen, so viel sie ihm auch das Ohr gezwirbelt und Backpfeifen verpaßt hatten, um herauszubekommen, wer er war und woher er stammte. Am Ende erklärten sie den Jungen für taubstumm und ließen von ihm ab. »Wohin mit ihm, Kondrat Pantelejewitsch?« fragte der Wachsoldat. Er saß mit dem Rücken zu Ahimaaz, aß und trank aus einem Krug dazu. »Müssen wir ihn wirklich in die Stadt schaffen? Vielleicht behalten wir ihn bis morgen hier und geben ihm dann den Laufpaß?«
»Ich werd dir gleich den Laufpaß geben!« antwortete der Vorgesetzte, der ihm gegenübersaß und mit der Gänsefeder etwas in ein Buch schrieb. »Hat nicht viel gefehlt, und er hätte dem Sohn vom Ataman die Rübe gespalten. Das kleine Raubtier muß nach Kisljar, ins Gefängnis.«
»Wär's nicht ein Jammer, ins Gefängnis? Weißt doch selber, Kondrat, was sie mit den Küken dort machen.«
»Wo soll er sonst hin!« sagte der Unteroffizier rauh. »Hier ist kein Platz für ihn.« »Vielleicht nach Skirowsk? Nehmen die Nonnen dort nicht Waisenkinder auf?«
»Nur weibliche. Er kommt ins Gefängnis, Kowaltschuk, und basta. Morgen früh bringst du ihn hin. Ich mach grad die Papiere fertig.«
Am anderen Morgen aber war Ahimaaz schon über alle Berge. Nachdem der Unteroffizier gegangen war und der Wachsoldat sich schlafen gelegt hatte (kurz darauf schnarchte er), kletterte Ahimaaz zum Fenster hinauf, zwängte sich zwischen den zwei dicken Gitterstäben hindurch ins Freie und sprang hinunter auf die weiche Erde.
Von Skirowsk hatte er schon gehört - das lag gen Sonnenuntergang, vierzig Werst weit. Es gab also doch keinen Gott.
3
Ahimaaz kam im klösterlichen Waisenhaus zu Skirowsk als Mädchen an - er hatte Kattunkleidchen und Kopftuch von einer Wäscheleine stibitzt. Der Äbtissin, die sich mit Mutter Pelageja ansprechen ließ, stellte er sich als Lia Weide vor, Flüchtlingskind aus dem von den Bergvagabunden geschleiften Dorf Neueswelt. Weide - so hieß er wirklich, und Lia war der Name seiner Großcousine gewesen, einem sommersprossigen Zicklein mit Piepsstimme. Das letzte Mal hatte Ahimaaz sie mit gespaltenem Gesicht auf dem Rücken liegen sehen.
Mutter Pelageja strich der kleinen Deutschen über den kurzgeschorenen weißblonden Kopf, als sie fragte: »Wirst du denn auch unseren rechten Glauben annehmen?«
So wurde Ahimaaz zum Russen, denn inzwischen war er sich sicher, daß es keinen Gott gab, Beten sinnlos war und der russische Glaube nicht ärger sein konnte als der väterliche.
Im Kloster gefiel es ihm. Zweimal täglich gab es zu essen, und schlafen durfte man in einem richtigen Bett. Gebetet wurde allerdings etwas viel für seinen Geschmack, und der Saum des Kleides verfing sich immerzu zwischen den Beinen.
Am zweiten Tag sprach ihn ein Mädchen mit schmalem Gesicht und großen grünen
Augen an. Sie hieß Shenja, und ihre Eltern waren gleichfalls von Räubern ermordet wurden, schon letzten Herbst. »Was für klare Augen du hast, Lia!« sagte sie. »Wie Wasser so klar.« Ahimaaz wunderte sich: Bis jetzt waren seine viel zu hellen Augen nie auf Sympathie gestoßen. Selbst dieser Kosakenoffizier hatte ihn, während er auf ihn einprügelte, »Schneeule« geschimpft. Das Mädchen Shenja heftete sich an seine Fersen. Wo er war, da war sie. Am vierten Tag kam sie dazu, wie Ahimaaz, das Kleid gerafft, hinter dem Schuppen stand und pinkelte.
Pech gehabt. Nun würde er wieder fliehen müssen - und hatte doch keine Ahnung, wohin. Er beschloß so lange zu warten, bis sie ihn wegjagten. Aber sie jagten ihn nicht weg. Shenja hatte dichtgehalten.
Der sechste Tag war ein Sonnabend. Badetag. Früh kam Shenja geschlichen und flüsterte: »Geh nicht mit, sag, du hättest die Regel.«
»Was für eine Regel?« Ahimaaz verstand nicht.
»Das ist, wenn du nicht ins Badehaus darfst, weil Blut aus dir fließt und du unrein bist. Manche Mädchen hier haben das schon. Katja und Sonja zum Beispiel«, erklärte sie. Das waren die Namen der zwei ältesten Zöglinge. »Mutter Pelageja kontrolliert es nicht, sie ekelt sich davor.«
Ahimaaz folgte dem Ratschlag. Die Nonnen wunderten sich: so früh schon und so weiter, doch sie erlaubten, dem Badehaus fernzubleiben. Am Abend sagte Ahimaaz zu Shenja: »Nächsten Sonnabend haue ich ab.«
»Dann brauchst du Brot auf den Weg«, sagte sie, und Tränen rollten über ihr Gesicht.
Von nun an aß sie ihr Brot nicht mehr, sondern steckte es heimlich Ahimaaz zu, der die Scheiben in einen Sack legte.
Wegzulaufen war indes gar nicht nötig, denn Freitag abend, am Vorabend des nächsten Badetags, tauchte Onkel Hassan im Waisenhaus auf. Er ging zu Mutter Pelageja und fragte sie, ob es stimme, daß ein Mädchen aus dem von Mahoma abgefackelten deutschen Dorf bei ihr sei. Hassan wünschte mit dem Mädchen zu sprechen, um zu erfahren, wie seine Schwester und sein Neffe zu Tode gekommen waren. Mutter Pelageja rief Lia Weide in ihre Zelle und ging selbst hinaus, weil sie vom Bösen nichts hören mochte.
Hassan war ganz anders, als Ahimaaz ihn sich vorgestellt hatte. Rote Nase, dicke Backen, ein dichter schwarzer Bart und kleine, listige Äuglein. Haßerfüllt sah Ahimaaz ihn an, denn der Onkel glich den Tschetschenen, die das Dorf Neueswelt angezündet hatten.
Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Auf Hassans Fragen schwieg das Waisenkind oder antwortete einsilbig, der Blick unter den weißblonden Wimpern hervor war trotzig und stechend.
»Mein Neffe Ahimaaz ist nicht gefunden worden«, sagte Hassan auf russisch mit kehlig krächzender Stimme. »Vielleicht hat Mahoma ihn verschleppt?«
Das Mädchen zuckte die Schultern.
Nach kurzem Überlegen holte Hassan ein paar silberfarbene Glasperlen aus der Tasche.
»Die schenk ich dir«, sagte er. »Sie sind echt, aus Schemacha. Schau, wie schön sie sind. Spiel ruhig ein bißchen damit, inzwischen gehe ich die Äbtissin um ein Nachtlager bitten. Ich bin weit gereist und müde. Kann ja nicht unter freiem Himmel schlafen.«
Er ging hinaus. Seinen Säbel ließ er auf dem Stuhl liegen. Kaum hatte die Tür sich hinter dem Onkel geschlossen, fegte Ahimaaz die Perlen beiseite und stürzte zu der schweren Waffe. Die Scheide war schwarz, mit Silber ausgelegt. Er zog am Griff, und die blanke Stahlklinge kam zum Vorschein, die im Schein der Lampe eisig funkelte. Eine echte Gurdaklinge! dachte Ahimaaz, während sein Finger über die arabischen Schnörkel im Stempel fuhr.
Es knarrte leise. Ahimaaz zuckte zusammen und sah in Hassans lachende schwarze Augen, die ihn durch den Türspalt anblickten.
»Unser Blut!« sagte Hassan auf tschetschenisch und ließ seine weißen Zähne sehen. »Es ist stärker als das deutsche! Laß uns aufbrechen, Ahimaaz. Wir nächtigen in den Bergen. Unter freiem Himmel schläft es sich besser.«
Später, als Skirowsk hinter einer Wegbiegung verschwunden war, legte Hassan Ahimaaz die Hand auf die Schulter. »Ich werde dich in eine Schule geben, Ahimaaz, aber vorher mache ich einen Mann aus dir. Du mußt dich an Mahoma für Vater und Mutter rächen. So ist das Gebot, ob du es willst oder nicht.«