Und Ahimaaz begriff: Das war einmal ein rechtes Gebot.
4
Sie übernachteten, wo es sich gerade ergab: in heruntergekommenen Gasthöfen, bei Geschäftsfreunden des Onkels oder manchmal auch einfach, in die Burka gewickelt, im Wald.
»Drei Dinge muß ein Mann im Gebirge zu finden wissen: Nahrung, Wasser und den Weg«, lehrte Hassan den Neffen sein Einmaleins. »Und er muß sich und die Ehre seines Stammes verteidigen können.«
Ahimaaz wußte nicht, was mit der Ehre des Stammes gemeint war. Er hatte keinen Stamm. Aber sich verteidigen können, das wollte er unbedingt, und er war bereit, von früh bis spät dafür zu lernen.
»Halte den Atem an und stell dir vor, aus der Mündung kommt ein feiner Strahl. Mit diesem Strahl tippst du gegen das Ziel.« Hassan atmete in Ahimaaz' Nacken, während er die in den Gewehrschaft gekrallten Finger des Jungen richtete. »Kraft ist
nicht nötig dafür. Das Gewehr ist wie eine Frau oder wie ein Pferd, es will Liebe und Verständnis.«
Ahimaaz versuchte das Gewehr zu verstehen, hörte sich ein in seine nervöse eiserne Stimme, bis das Metall ihm ins Ohr zu gurren begann: ein bißchen weiter links, noch ein bißchen - jetzt schießen!
»Oho!« Der Onkel rollte staunend die Augen. »Du hast ja den Adlerblick! Eine Flasche auf hundert Schritt! Mahomas Kopf möge einmal so zerspringen!«
Ahimaaz wünschte den Einäugigen jedoch nicht auf hundert Schritt zu töten. Er wollte ihn erschlagen, so wie Tetima erschlagen worden war: mit der Faust gegen die Schläfe. Oder noch besser: die Kehle durchschneiden, wie Mahoma es mit Pelet getan hatte.
Mit der Pistole zu schießen war noch einfacher.
»Vergiß das Zielen!« sagte der Onkel. »Der Pistolenlauf ist die Verlängerung deines Arms. Wenn du mit dem Finger auf etwas zeigst, mußt du auch nicht vorher zielen, du zeigst einfach drauf. Stell dir vor, die Pistole wäre dein sechster Finger.« Ahimaaz zeigte mit dem langen Eisenfinger auf eine Walnuß, die auf einem Baumstumpf lag, und die Nuß zersprang in viele kleine Splitter.
Den Säbel gab Hassan seinem Neffen nicht in die Hand; Arm und Schultern sollten erst noch wachsen. Aber einen Dolch schenkte er ihm gleich am allerersten Tag und wies ihn an, sich nie von ihm zu trennen: »Hänge ihn dir um den Hals, wenn du nackt in den Fluß steigst, um zu baden.« Nach einiger Zeit war der Dolch für Ahimaaz zu einem Körperteil geworden, so wie der Stachel für die Wespe. Mit ihm konnte man Reisig fürs Feuer hauen, den erlegten Hirsch zum Ausbluten bringen und einen feinen Span schnitzen, um sich nach dem Hirschbraten in den Zähnen zu stochern. Am Rastplatz, wenn es weiter nichts zu tun gab, übte Ahimaaz Zielwerfen gegen einen Baum: im Stehen, Sitzen oder Liegen. Diesen Zeitvertreib bekam er nie über. Zuerst vermochte er nur eine Kiefer zu treffen, später auch schon eine junge Buche und am Ende jeden beliebigen Buchenast.
»Die Waffe ist das eine«, sagte Hassan, »aber ein Mann muß seinen Feind auch ohne Waffen besiegen können: mit bloßen Fäusten, Füßen oder Zähnen, gleich wie. Hauptsache, das Herz ist in heiligem Zorn entflammt: Der schützt dich vor Schmerz, läßt den Feind erschauern und verhilft dir zum Sieg. Laß ruhig das Blut in den Kopf schießen, laß die Welt um dich her in roten Nebel tauchen, dann ist das Übrige halb so schwer. Du wirst verwundet oder totgeschlagen und merkst es nicht mal. So ist er, der heilige Zorn.«
Ahimaaz erhob keine Einwände, doch insgeheim war er mit diesem Gedanken des Onkels nicht einverstanden. Er wollte weder verwundet, noch totgeschlagen werden. Um jedoch zu überleben, mußte er hellsichtig sein - heiliger Zorn und roter Nebel störten dabei nur. Und der Junge wußte, er würde ohne sie auskommen. Einmal, schon zur Winterszeit, kam der Onkel in freudiger Stimmung von einem Geschäftsgang zurück. Ein zuverlässiger Freund hatte ihm mitgeteilt, Mahoma sei
mit viel Beutegut aus Georgien herübergekommen und sitze jetzt in Chanacha beim Gelage. Was ganz in der Nähe war, zwei Tagesmärsche nur.
In Chanacha, einem großen, kriegerischen Aul, kamen sie bei einem Geschäftsfreund des Onkels unter. Hassan ging auf Erkundungstour und blieb lange weg; bei seiner Rückkehr war er mürrisch. »Kein leichtes Spiel!« sagte er. Mahoma sei stark und schlau. Drei von den vieren, die er im deutschen Dorf bei sich gehabt hatte, saßen und zechten mit ihm. Den vierten, den krummbeinigen Mussa, hatten die Swanen getötet. An seiner Stelle war jetzt ein Dshafar aus Nasran dabei. Sie waren also zu fünft.
Nachdem der Onkel gut zu Abend gegessen und gebetet hatte, ging er zu Bett. Vor dem Einschlafen sagte er zu Ahimaaz:
»Im Morgengrauen, wenn Mahoma und seine Leute müde und betrunken sind, gehen wir hin und üben Rache. Du wirst Mahoma sterben sehen und deine Finger in das Blut des Mannes tauchen, der deine Mutter getötet hat.«
Mit diesen Worten drehte Hassan sich zur Wand und war in kürzester Zeit eingeschlafen. Der Junge aber löste behutsam das grüne Seidensäckchen von des Onkels Hals. In ihm lag, zu Pulver gestoßen, der giftige Irgantschai-Pilz.
»Wenn dich die Grenzwache schnappt und in den steinernen Sack steckt, wo weder Berge, noch Himmel zu sehen sind«, so hatte der Onkel gesagt, »dann mußt du dir das Pulver auf die Zunge streuen, gut einspeicheln und schlucken. Ehe du fünfmal den Namen Allahs ausgesprochen hast, bleibt nichts als dein nutzloser Körper in dem Gefängnis liegen.«
Ahimaaz nahm sich Pluderhosen, Kleid und Kopftuch der Tochter des Hauses, in dem sie logierten. Dann holte er einen Krug Wein aus dem Keller und entleerte das Säckchen hinein.
In der Schenke saßen die Männer beisammen, redeten, tranken Wein und spielten Tricktrack. Aber Mahoma und seine Mannen waren nicht da. Ahimaaz beschloß zu warten. Nach einer Weile sah er den Sohn des Wirtes Käse und Fladen ins Nachbarzimmer hinübertragen. Dort mußte Mahoma sein.
Als der Wirtssohn das Zimmer verlassen hatte, schlüpfte Ahimaaz hinein und stellte, schweigend und ohne den Blick zu heben, seinen Krug auf den Tisch.
»Ist der Wein ordentlich, Mädel?« fragte der einäugige, schwarzbärtige Mann, den er so gut in Erinnerung hatte.
Ahimaaz nickte, ging in eine Ecke und kauerte sich dort hin. Er wußte nicht, wie er mit Dshafar aus Nasran verfahren sollte. Dshafar war noch sehr jung, siebzehn vielleicht. Sollte er ihm sagen, sein Pferd draußen drehe durch und beiße in die Zügel, damit er hinausging und nachschaute? Doch da fiel Ahimaaz jener Kosakenjunge ein, und er verstand, daß er das nicht tun durfte. Dshafar hatte sich ihm gegenüber nichts zuschulden kommen lassen, trotzdem mußte er sterben, denn das war sein Schicksal.
Und Dshafar starb als erster. Kaum hatte er gemeinsam mit den anderen aus dem Krug getrunken, als er mit dem Gesicht auf die Tischplatte fiel.
Der zweite Räuber fing an zu lachen, doch aus dem Lachen wurde ein Röcheln.
»Ich krieg keine Luft!« sagte der dritte, faßte sich an die Brust und fiel um.
»Mahoma, was ist mit mir?« fragte der vierte mit schwerer Zunge, kroch von der Bank, krümmte sich zusammen und blieb so liegen.
Mahoma selbst saß da und sagte nichts. Sein Gesicht war so rot wie der in Pfützen über den Tisch verschüttete Wein.
Der einäugige Mahoma blickte auf seine sterbenden Kumpane, dann richtete er sein Auge auf Ahimaaz, der geduldig wartend in seiner Ecke kauerte.
»Wer bist du, Mädchen?« fragte er, die Worte kamen ihm nur schwer über die Zunge. »Warum hast du so helle Augen?«
»Ich bin kein Mädchen«, erwiderte Ahimaaz. »Ich bin Ahimaaz, Tetimas Sohn. Und du bist ein toter Mann.«
Mahoma fletschte die gelben Zähne, so als freute ihn diese Auskunft ungemein, zog langsam den Säbel mit dem goldenen Griff aus der Scheide und hatte ihn noch nicht ganz heraus, als er röchelnd auf den Lehmboden sackte. Ahimaaz stand auf, zog seinen Dolch unter dem Mädchenrock hervor und fuhr damit, in Mahomas starres Auge schauend, mit einer schnellen, flüssigen Bewegung, so wie der Onkel es ihn gelehrt hatte, über die Kehle des vor ihm Liegenden. Dann tauchte er die Finger in den heißen, pulsierenden Strom.