Ahimaaz paßte den Moment ab, da der patrouillierende Wächter stehenblieb, um sich eine Pfeife anzuzünden, kam, vollkommen geräuschlos in seinen weichen Lederschuhen, von hinten gesprungen und hieb dem Mann den Schlagring knapp über das Ohr. So ein Schlagring ist unersetzlich, wenn es darum geht, sehr schnell zu töten. Besser als jedes Messer, das man aus der Wunde wieder herausziehen muß, womit man eine kostbare Sekunde verliert.
Der Soldat gab beim Sterben keinen Laut von sich, Ahimaaz fing den erschlaffenden Körper auf. Doch der zweite Wächter schlief einen leichten Schlaf, das Knirschen des berstenden Knochens weckte ihn, und sein Kopf fuhr herum.
Im Nu hatte Ahimaaz den Toten von sich gestoßen und war in drei Riesensätzen beim Tor. Der Soldat riß den schwarzen Rachen auf, doch für den Schrei war es zu spät. Von dem Schlag gegen die Schläfe kippte ihm der Kopf nach hinten und schlug dumpf gegen die Eichenbohlen.
Den einen Toten zerrte Ahimaaz in den Schatten, den anderen plazierte er so, wie er zuvor gesessen hatte.
Auf seinen Wink hin betraten Hassan und Jewgenija den vom Mondlicht erhellten Hof. Schweigend blickte die Frau auf die sitzende Leiche und umfaßte fröstelnd ihre Schultern. Man hörte ihre Zähne leise aufeinanderschlagen. Hier im Mondschein konnte Ahimaaz erkennen, daß sie unter dem Umhang eine Patronenweste trug und einen Dolch im Gürtel stecken hatte.
»Geh, Frau, schließ das eiserne Zimmer auf!« drängte Hassan.
Sie stiegen die Treppe zum Keller hinab. Jewgenija öffnete mit einem Schlüssel die Tür. Unten in dem quadratischen Vorraum, dessen eine Wand ganz aus Stahl war, zündete Jewgenija die Lampe an. Sie trat vor das Rad an der Panzertür und fing an, es erst nach rechts und dann wieder nach links zu drehen, zwischendurch sah sie auf einen Zettel. Kopfschüttelnd schaute Hassan ihr zu. In der Tür klickte es, Jewgenija zerrte, doch das stählerne Türblatt war zu schwer für sie.
Hassan schob die Frau beiseite, schnaubte kurz, und die Tür begann sich erst träge und dann immer geschwinder nach außen zu bewegen.
Ahimaaz nahm die Lampe und ging hinein. Der Raum war kleiner als erwartet: etwa zehn Schritt breit, fünfzehn Schritt tief. Er enthielt Truhen, Säckchen und Kanzleiordner in größerer Zahl.
Hassan öffnete eine Truhe und klappte sie gleich wieder zu - Silberbarren lagen darin. Sie waren zu schwer, um viel davon wegzutragen. In den Säckchen hingegen klimperten die Goldmünzen, und der Onkel schnalzte erfreut. Er fing an, sich die Säckchen unter das Hemd zu stopfen und, als dort nichts mehr hineinging, in den Umhang zu werfen.
Ahimaaz interessierte sich mehr für die Ordner. In ihnen fand er Aktien und Obligationen. Er wählte die aus, die viel gezeichnet und am höchsten bewertet waren. Aktien von Rothschild, Krupp und den Manufakturen der Gebr. Chludow, die mehr wert waren als alles Gold - doch Hassan war ein Mann von altem Schlag und hätte sich auf derlei nie und nimmer eingelassen.
Unter Ächzen wälzte der Onkel sich das schwere Bündel auf den Rücken, sah sich mit Bedauern um - da waren noch viele Säckchen übrig - und begab sich seufzend zur Tür. Ahimaaz trug einen dicken Packen Wertpapiere unter der Jacke. Jewgenija hatte nichts angerührt.
Als der Onkel die kurze Treppe zum Hof hinaufstieg, krachte eine Salve von Schüssen. Hassan fiel nach hinten um und kam kopfüber die Treppe wieder heruntergerutscht. Sein Gesicht trug die Züge eines Menschen, den der Tod überrascht hat. Aus dem Bündel, das aufgegangen war, regnete es glänzende, klingelnde Goldmünzen.
Ahimaaz ging nieder auf alle viere, kroch ein paar Stufen hinauf und spähte vorsichtig nach draußen. In der Hand hielt er einen amerikanischen Colt mit langem Lauf, in dessen Trommel sechs Patronen steckten.
Auf dem Hof war niemand. Der Gegner hatte sich auf der Veranda des Hauses verschanzt und war von unten nicht zu sehen. Doch auch Ahimaaz war vermutlich nicht sichtbar, da die Kellertreppe im tiefen Schatten lag.
»Einer von euch ist tot!« ertönte Lasar Medwedjews Stimme. »Wer ist es, Hassan oder Ahimaaz?«
Ahimaaz zielte in Richtung der Stimme, drückte aber nicht ab -er schoß ungern daneben.
»Hassan, es war Hassan!« rief der Neuchrist überzeugt. »Sie sind schlanker, Herr Weide. Kommen Sie raus, junger Mann. Sie sitzen in der Falle. Schon mal was von Elektrizität gehört? Wenn die Tür zum Panzerraum aufgeht, wird bei mir im Schlafzimmer Alarm ausgelöst. Wir sind hier zu viert - ich und drei von meinen Knappen. Der vierte ist zur Polizei unterwegs. Kommen Sie, wozu das Ganze in die Länge ziehen. Zu so später Stunde!«
Sie gaben noch eine Salve ab, wohl eher zur Einschüchterung. Die Kugeln schwirrten zwischen den Wänden der Kammer hin und her.
Jewgenija flüsterte ihm von hinten etwas zu.
»Ich gehe raus. Bei der Finsternis, in der Burka, erkennen sie mich nicht. Sie denken, du bist es. Sie kommen aus der Deckung, und du kannst sie alle erschießen.«
Ahimaaz überdachte den Vorschlag. Er hätte Jewgenija jetzt mitnehmen können - ein Pferd war frei geworden. Leider gab es keine Chance, zu den Pferden zu gelangen.
»Nein«, sagte er. »Die haben viel zuviel Angst vor mir und schießen gleich.«
»Nicht, wenn ich mit erhobenen Händen komme.«
Ohne zu zögern, trat sie über den liegenden Ahimaaz hinweg ins Freie, die Arme weit ausgebreitet, so als fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie war gerade einmal fünf Schritte gegangen, als kurz hintereinander mehrere Schüsse fielen.
Jewgenija fiel auf den Rücken. Von der dunklen Galerie kamen zögernd vier schwarze Schatten herunter. Wie ich es gesagt habe! dachte Ahimaaz. Sie schießen gleich.
Und er erschoß sie alle vier.
In späteren Jahren kam ihm Jewgenija nur noch selten in den Sinn. Wenn ihn zufällig etwas an sie erinnerte. Oder im Traum.
MAITRE LICOLE 1
1
Mit dreißig spielte Ahimaaz Weide gern Roulette. Nicht daß es ihm ums Geld gegangen wäre - das verdiente er sich auf andere Weise, und mehr, viel mehr, als er je hätte ausgeben können. Ihm gefiel es, den blinden Zufall zu überlisten und Herrschaft über die Willkür der Zahlen zu gewinnen. Die Roulettescheibe aus blitzendem Metall mit dem gemütlich klackenden Drehkreuz rotierte im polierten Mahagoni des Kessels nach Gesetzen, die nur sie selbst zu kennen schien; doch kluge Berechnung, Ausdauer und Selbstkontrolle machten sich hier ebenso bezahlt wie in jeder anderen Situation, die Ahimaaz je erlebt hatte, und das zugrunde liegende Gesetz schien dasselbe zu sein, das er schon aus Kindertagen kannte. Die Einheit des Lebens bei aller unendlichen Vielfalt seiner Formen -das war es, was Ahimaaz faszinierte. Jede neue Bestätigung dieser Wahrheit führte dazu, daß sich sein sonst so regelmäßiger Herzschlag eine Winzigkeit beschleunigte.
In seinem Leben gab es mitunter längere Phasen der Untätigkeit, da er gezwungen war, sich irgendeinen Zeitvertreib zu suchen. Die Engländer hatten hierfür eine vorzügliche Erfindung gemacht: Hobby hieß das. Ahimaaz hatte zwei solcher Hobbys - das Roulette und die Frauen. Bei den Frauen hielt er sich an die besten und echtesten - die professionellen nämlich. Sie waren unprätentiös und berechenbar, sie wußten, daß es Regeln gab, die zu befolgen waren. Auch Frauen waren grenzenlos vielfältig und doch allesamt auf jene allgemeingültige, gleichbleibende Weise Frau. Ahimaaz pflegte die teuersten über eine Pariser Agentur kommen zu lassen und buchte sie zumeist für einen ganzen Monat. War eine besonders gut, verlängerte er den Vertrag um einen weiteren Monat, nie jedoch mehr - dies war eine eiserne Regel.
Die letzten zwei Jahre hatte er in dem deutschen Kurort Roulettenburg gelebt, denn hier, in Europas fröhlichstem Städtchen, konnte er beiden Hobbys mühelos frönen. Roulettenburg ähnelte Solenowodsk: ein Kurbad voll träger, müßiggehender Menschen, keiner kannte den anderen und interessierte sich für ihn. Nur die Berge fehlten. Derselbe Eindruck von Endlichkeit, Kurzlebigkeit, Künstlichkeit drängte sich auf. Ahimaaz schien es, als wäre solch ein Kurort das sauber und akkurat im Maßstab 1:500 oder 1:1000 ausgeführte Modell des Lebens. Der Mensch ist fünfhundert oder, wenn er Glück hat, tausend Monate auf der Welt - nach Roulettenburg kam man für einen. Die Kurgastexistenz währte im Schnitt dreißig Tage, im selben Intervall wechselten hier die Generationen. Und in diese Zeit paßte alles hinein: die Freude der Ankunft, die Eingewöhnung,die ersten Anzeichen von Langeweile, der Kummer ob der bevorstehenden Rückkehr in eine andere, größere Welt. Es gab hier kurze Romanzen, heftige, doch flüchtige Leidenschaften, es gab vorübergehende Berühmtheiten und Sensationen auf Zeit. Ahimaaz selbst war