jedoch Stammgast in diesem Puppentheater. Er hatte sich eine Existenzdauer verschafft, die sich von der aller anderen unterschied.
Im Hotel »Kaiser«, wo die indischen Nabobs abstiegen, die amerikanischen Goldgrubenbesitzer und die inkognito reisenden russischen Großfürsten, bewohnte er eines der besten Zimmer. Nur Mittelsleute wußten, wo er zu finden war. Kam ein Auftrag, hielt man das Zimmer über Wochen oder, wenn die Sache sich hinzog, gar über Monate für ihn frei.
Das Leben war angenehm. Phasen der Anspannung wechselten mit Phasen der Zerstreuung, da das Auge sich am Grün des Spieltischs freuen durfte und das Ohr am gleichmäßigen Surren der Roulettescheibe. Rundum kochten die im Maßstab der Zeit konzentrierten Leidenschaften: Solide Herren wurden abwechselnd rot und blaß, Damen fielen in Ohnmacht, jemand schüttelte mit zitternden Händen die letzte Golddukate aus dem Portemonnaie. An diesem ergreifenden Spektakel konnte Ahimaaz sich nicht sattsehen. Selbst verlor er nie, denn er spielte mit System.
Sein System war so einfach und offensichtlich, daß man sich wundern mußte, wieso es nicht auch andere benutzten. Sie besaßen wohl einfach nicht die Geduld dafür, nicht die Ausdauer und nicht die Fähigkeit, ihre Emotionen im Zaum zu halten - all das, was Ahimaaz im Übermaß zur Verfügung hatte. Man mußte nur immer auf dieselbe Chance setzen und den Einsatz stetig verdoppeln. Hatte man genügend Geld, kam früher oder später alles zurück, was man verloren hatte, und immer noch etwas hinzu. Das war das ganze Geheimnis. Hierfür mußte man freilich nicht auf die einzelne Zahl setzen, sondern auf einen größeren Sektor. Ahimaaz belegte in aller Regel ein Dutzend.
Er trat an einen der Tische, wo in unbegrenzter Höhe gesetzt werden durfte, wartete, daß irgendein Dutzend sechsmal in Folge nicht erschien, und griff ins Spiel ein. Er begann mit einem Goldrubel. Gewann sein Dutzend nicht, setzte er zwei Rubel, dann vier, dann acht und immer so weiter, bis die Kugel endlich dort landete, wo sie hinsollte. Den Einsatz konnte Ahimaaz in jede beliebige Höhe treiben, Geld hatte er genug. Einmal, vergangenes Jahr kurz vor Weihnachten, verlor das Dutzend, das er belegt hielt, zwei-undzwanzigmal hintereinander - sechs im Vorlauf und sechzehn unter Einsatz. Doch Ahimaaz zweifelte keinen Moment lang am Erfolg. Jeder Fehlschlag konnte die Aussicht auf Gewinn nur erhöhen.
Während er damals einen Scheck nach dem anderen auf den Tisch warf, wobei die Anzahl der Nullen immerzu wuchs, kam ihm eine Episode aus seiner Amerikazeit in den Sinn.
Es war im Jahr 1866. Damals hatte er einen gewichtigen Auftrag aus Louisiana erhalten. Es galt, einen Kommissar der Bundesregierung aus dem Weg zu räumen, der die »Carpetbagger« daran hindern wollte, Konzessionen zu verteilen. »Carpettbagger« waren jene unternehmungslustigen politischen Abenteurer aus
dem Norden, die mit nur einer Reisetasche im besiegten Süden ankamen und im personengebundenen Pullman-Waggon von dort zurückkehrten.
Es war eine wirre Zeit und ein Menschenleben in Louisiana damals nicht viel wert. Doch für den Kommissar gab es gutes Geld, denn es war äußerst schwer, an ihn heranzukommen. Der Kommissar wußte, daß Jagd auf ihn gemacht wurde, und verhielt sich klug, indem er seine Residenz gar nicht erst verließ. Er schlief, aß und unterschrieb Papiere ausschließlich in den eigenen vier Wänden. Die Residenz wurde rund um die Uhr von blau uniformierten Soldaten bewacht.
Ahimaaz hatte sich in einem Hotel eingemietet, das in etwa dreihundert Schritt Entfernung von der Residenz lag - näher heranzukommen war ihm nicht gelungen. Von seinem Zimmer aus war das Fenster zu sehen, hinter dem der Kommissar sein Arbeitszimmer hatte. Morgens pünktlich um halb acht zog das Objekt die Vorhänge auf. Die Tätigkeit nahm drei Sekunden in Anspruch - in dieser Zeit ließ sich auf derart große Distanz nicht sicher zielen. Das Fenster war von einer breiten senkrechten Sprosse in zwei Hälften unterteilt, und ein zusätzliches Problem bestand darin, daß der Kommissar beim Zurückziehen der Gardine manchmal links neben der Sprosse und manchmal rechts davon stand. Ahimaaz hatte nur einen Schuß zur Verfügung - wenn der sein Ziel verfehlte, war die Sache verpatzt, eine zweite Chance würde sich nicht bieten. Deshalb mußte er auf Nummer Sicher gehen.
Es gab nur zwei Varianten: Sein Ziel konnte entweder rechts oder links auftauchen. Sagen wir: rechts! entschied Ahimaaz. Es war egal. Das langläufige Gewehr mit dem in einen Schraubstock gespannten Schaft wurde punktgenau auf Brusthöhe, sechs Zoll rechts neben der Sprosse visiert. Noch sicherer wären zwei Gewehre gewesen, eines für rechts und eines für links, doch dazu hätte er einen Assistenten gebraucht, und in jenen Jahren (wie auch jetzt noch, von Fällen äußerster Notwendigkeit abgesehen) zog er es vor, ohne Gehilfen zu arbeiten.
Die Munition war von besonderer Art: eine Sprengkugel, die aufplatzte wie eine Blütenknospe. Sie enthielt eine Leichengiftessenz. Es reichte, wenn eine winzige Menge davon in die Blutbahn gelangte; jede noch so leichte Verwundung hatte den Tod zur Folge.
Alles war bereit. Am ersten Morgen tauchte der Kommissar in der linken Hälfte auf. Am zweiten ebenfalls. Ahimaaz wurde nicht ungeduldig - er wußte, morgen, spätestens übermorgen würden die Vorhänge von rechts aufgezogen, und dann drückte er ab.
Doch der Kommissar schien in seinen Gewohnheiten wie ausgetauscht. Von dem Tag an gerechnet, da das Visier eingerichtet worden war, zog er die Vorhänge sechsmal hintereinander nicht von rechts, sondern von links auf.
Ahimaaz kam zu der Auffassung, daß sein Objekt eine Routine ausgebildet hatte, und lenkte das Visier auf sechs Zoll links von der Mitte um. Am Morgen des siebten Tages kam der Kommissar von rechts! Nicht anders am achten und am neunten.
Da verstand Ahimaaz, daß es beim Spiel mit dem Zufall vor allem eines zu beachten gab: nicht die Geduld zu verlieren. Er wartete also. Am elften Morgen kam der Kommissar von der richtigen Seite, und die Arbeit ward getan.
Und ebenso war es letztes Jahr kurz vor Weihnachten geschehen: Beim siebzehntenmal, als sein Einsatz auf fünfundsechzigtau-send angewachsen war, rollte die Kugel endlich an die richtige Stelle. Ahimaaz bekam knapp zweihunderttausend ausgezahlt. Das machte den Verlust sämtlicher vorhergehender Einsätze wett und bescherte noch einen kleinen Gewinn.
2
Jener Septembermorgen des Jahres 1872 begann wie üblich. Ahimaaz frühstückte mit Azalie. Das war eine schlanke, biegsame Chinesin mit erstaunlicher Stimme: hell wie ein Kristallglöckchen. In Wirklichkeit hatte sie natürlich einen anderen, chinesischen Namen, der aber, wie von der Agentur zu erfahren gewesen, »Azalie« bedeutete. Ahimaaz hatte sie auf Probe geschickt bekommen -sozusagen ein Warenmuster. Frauen aus Fernost gab es erst seit kurzem auf dem europäischen Markt. Der Preis lag um die Hälfte niedriger als sonst, und wenn Monsieur Weide das Mädchen vor der Zeit loswerden wollte, bekam er sein Geld zurück. Als Gegenleistung für diesen Bonus bat die Agentur den ausgewiesenen Kenner und Stammkunden um sein geschätztes Urteil, Azalies Fähigkeiten im speziellen und die perspektivischen Chancen orientalischer Ware im allgemeinen betreffend.