Ahimaaz war geneigt, Höchstnoten zu erteilen. Morgens, wenn Azalie, vor dem venezianischen Spiegel sitzend, ein Liedchen trällerte, zog sich in Ahimaaz' Brust etwas zusammen. Das war ihm durchaus nicht recht. Die Chinesin war einfach zu hübsch. Was, wenn er sich plötzlich an sie gewöhnte und nicht von ihr lassen mochte? Er hatte schon beschlossen, das Mädchen vor Ablauf der Frist zurückzugeben, doch würde er das Geld nicht zurückverlangen und eine ausgezeichnete Beurteilung geben, um dem Mädchen nicht die Karriere zu verbauen.
Um viertel nach zwei ging Ahimaaz ins Casino - auch dies wie jeden Tag. Er trug ein milchkakaofarbenes Jackett, karierte Pantalons und gelbe Handschuhe. Die Lakaien kamen auf ihn zugestürzt, nahmen Stöckchen und Zylinder entgegen. Herr Weide war in Roulettenburgs Spielhäusern wohlbekannt. Zunächst hatte man seine Manier zu spielen als unvermeidliches Übel hingenommen, mit der Zeit jedoch bemerkt, daß die beständige Verdoppelung des Einsatzes, wie der nicht sehr gesprächige blonde Mann mit den kalten hellen Augen sie praktizierte, die Tischnachbarn zum Hasard anstachelte. So wurde Ahimaaz in diesen Etablissements ein gern gesehener Gast.
Er trank seinen gewohnten Kaffee mit Likör und sah die Zeitungen durch. England und Rußland konnten sich in der Zollfrage nach wie vor nicht einigen. Frankreich hielt Reparationszahlungen zurück, weshalb Bismarck eine Protestnote nach Paris gesandt hatte. In Belgien stand der Prozeß gegen den Rattenfänger von Brüssel kurz bevor.
Nachdem die Zigarre aufgeraucht war, begab sich Ahimaaz an Tisch zwölf - hier waren die Einsätze nach oben offen.
Man spielte zu dritt; ein grauhaariger Herr saß nur dabei und ließ nervös den Deckel seiner goldenen Taschenuhr auf- und zuklappen. Als er Ahimaaz erblickte, saugten sich seine Augen an ihm fest. Instinkt und Erfahrung sagten Ahimaaz, daß dies ein Kunde war. Der nicht zufällig hier saß, sondern auf ihn wartete. Ahimaaz ließ sich jedoch nichts anmerken. Sollte er selber kommen.
Achteinhalb Minuten später stand sein erstes Dutzend fest: der-nier, 24 bis 36. Er setzte einen Friedrichsdor. Und gewann drei. Der Grauhaarige schaute immer noch herüber, sein Gesicht war blaß. Ahimaaz wartete wieder, diesmal elf Minuten, bevor er seine nächste Partie festlegte. Er setzte die Goldmünze auf premier- 1 bis 12. Die Dreizehn gewann. Beim nächsten Coup setzte er zwei. Zero-Spiel. Er erhöhte auf vier. Die Acht gewann. Zwölf Friedrichsdor Gewinn. Reingewinn: fünf. Es ging seinen Gang, keinerlei Überraschungen.
Da stand der Grauhaarige endlich auf und trat an ihn heran. »Herr Weide?« erkundigte er sich leise.
Ahimaaz nickte, ohne den Blick von der rotierenden Roulettescheibe zu wenden.
»Ich komme zu Ihnen auf Anraten des Baron de ...«
Er nannte den Namen eines Brüsseler Mittelsmannes.
»Ich hätte dringend etwas mit Ihnen zu bereden«, fuhr er in sichtlich wachsender Aufregung fort. »Es geht um ...«
»Wie wär's mit einem kleinen Spaziergang?« unterbrach ihn Ahimaaz und verstaute seinen Gewinn im Portemonnaie.
Der grauhaarige Herr entpuppte sich als Leon Fechtel, Inhaber des europaweit bekannten belgischen Bankhauses Fechtel & Fechtel. Der Bankier hatte ein ernsthaftes Problem.
»Haben Sie über den Rattenfänger von Brüssel gelesen?« fragte er, als sie sich auf einer Parkbank niedergelassen hatten.
Die Zeitungen waren voll davon. Der Triebtäter, der die kleinen Mädchen entführt hatte, war endlich gefaßt worden. Wie der »Petit Parisienne« schrieb, sei ein »Herr F.«, Besitzer einer Brüsseler Vorstadtvilla, von der Polizei verhaftet worden. Der Gärtner hatte gemeldet, nachts aus dem Keller des Hauses ersticktes Kindergeschrei vernommen zu haben. Die Polizei war diskret ins Haus eingedrungen, hatte eine Durchsuchung vorgenommen, im Keller eine Geheimtür entdeckt und dahinter, mit den Worten des Korrespondenten, »ein Bild des Grauens, das zu beschreiben kein Papier ertrüge«. Nichtsdestoweniger ließ der Korrespondent nur einen Absatz später eine solche Beschreibung in allen Details folgen. Die Polizei hatte in mehreren Eichenbottichen eingelegte Körperteile von sieben der in Brüssel und Umgebung während der letzten zwei Jahre verschollenen Mädchen entdeckt. Außerdem gab es eine noch ganz frische Leiche, die Spuren unbeschreiblicher Folterungen aufwies. Insgesamt waren vierzehn Mädchen im Alter von sechs bis dreizehn Jahren spurlos verschwunden. Ein paarmal war gesehen 144
worden, wie ein vornehm gekleideter Herr mit schwarzem Backenbart kleine Blumen- und Zigarettenhändlerinnen zu sich in die Kutsche lud. Und einmal hatte ein Zeuge gehört, wie der Backenbart das 11-jährige Blumenmädchen Lucille Lanout überredete, ihm den ganzen Korb nach Hause zu tragen, wofür er ihr sein elektrisches Klavier zu zeigen versprach, das ganz von allein die wunderschönsten Melodien spielte. Nach diesem Vorfall hieß das Monster in den Zeitungen nicht mehr »Blaubart«, es bekam seinen Namen in Anlehnung an jenen Rattenfänger aus dem Märchen, der die Kinder mit den Klängen seiner Zauberpfeife hinter sich herlockt.
Über den in Haft genommenen Herrn F. stand zu lesen, daß er der höheren Gesellschaft angehöre, ein typischer Vertreter der Jeunesse doree. Schwarzer Backenbart und elektrisches Klavier seien keine Erfindung gewesen. Das Motiv des Verbrechens liege auf der Hand, schrieb der »Evening Standard«: perverse Wollust im Geiste des Marquis de Sade. Ort und Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung standen bereits fest: Am 24. September sollte sie in der Kleinstadt Merlen eröffnet werden, eine halbe Droschkenstunde von der belgischen Hauptstadt entfernt.
»Über den Rattenfänger von Brüssel habe ich gelesen«, bestätigte Ahimaaz und drängte seinen in Schweigen versunkenen Gesprächspartner mit ungeduldigem Blick zur Eile. Der schrak auf, rang die rundlichen Hände, an deren Fingern etliche Ringe steckten, und rief klagend: »Herr F. ist Pierre Fechtel, mein einziger Sohn! Auf ihn wartet das Schafott! Sie müssen ihn retten!«
»Ich glaube, Sie sind über das Profil meiner Tätigkeit falsch informiert. Ich rette keine Leben, ich vernichte sie«, versetzte Ahimaaz mit dünnlippigem Lächeln.
»Ich habe gehört, Sie können Wunder vollbringen«, flüsterte der Bankier voller Inbrunst. »Wenn einer, dann Sie, heißt es. Ich flehe Sie an. Ich bezahle gut. Ich bin ein reicher Mann, Herr Weide. Überaus reich.«
Nach einer längeren Pause fragte Ahimaaz: »Sind Sie denn sicher, daß Sie einen solchen Sohn noch haben wollen?«
Die Antwort kam ohne Zögern; anscheinend hatte Fechtel senior sich diese Frage selbst schon gestellt.
»Einen anderen Sohn habe ich nicht und werde ich nie haben. Der Junge war immer schon leichtsinnig, aber er hat einen guten Kern. Sollte es mir gelingen, ihn aus dieser Geschichte herauszuholen, kriegt er einen Denkzettel fürs ganze Leben. Ich habe ihn im Gefängnis besucht. Er ist so verängstigt!«
Ahimaaz bat um Auskünfte über den bevorstehenden Prozeß.
Der »leichtsinnige« Alleinerbe würde von den zwei teuersten Anwälten verteidigt werden, die es gab. Die Taktik der Verteidigung baute auf den Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Jedoch bestand wenig Aussicht, daß die medizinischen Gutachter ein entsprechendes Verdikt lieferten - sie seien derart gegen den Jungen voreingenommen, beschwerte sich Monsieur Fechtel, daß nicht einmal die Aussicht auf ein »beispiellos hohes Honorar« sie hatte wanken lassen. Letzterer Umstand schien den Alten am allermeisten deprimiert zu haben.
Am ersten Verhandlungstag würden die Anwälte erklären müssen, ob ihr Mandant sich schuldig bekannte. Wenn ja, hatte der Richter das Urteil zu fällen; wenn nicht, oblag die Entscheidung den Geschworenen. Für den Fall, daß die psychiatrische Expertise die Schuldfähigkeit Pierre Fechtels feststellte, rieten die Anwälte, den ersteren Weg zu gehen.