Die Henkersknechte aus dem Justizministerium hatten nämlich, wie der untröstliche Vater hitzig erklärte, Merlen nicht etwa zufällig zum Gerichtsort erwählt - drei der vermißten Mädchen stammten von dort. Einen gerechten Prozeß würde es in Merlen nicht geben. Die ansässige Bevölkerung war bis zum äußersten aufgebracht. Rings um das Gerichtsgebäude brannten Nacht für Nacht Scheiterhaufen. Vorgestern hatte die Menge versucht, in das Gefängnis einzudringen und den Arrestanten zu lynchen - die Wache mußte verdreifacht werden.
Herr Fechtel hatte geheime Unterredungen mit dem Richter geführt, und der war ein vernünftiger Mann. Wenn das Urteil von ihm abhing, würde der Junge mit einer lebenslänglichen Haftstrafe davonkommen. Was aber wenig ändern würde. Denn die Voreingenommenheit der Öffentlichkeit gegen den Rattenfänger von Brüssel war so groß, daß der Staatsanwalt ein solches Urteil unter Garantie anfechten und der Fall von neuem aufgerollt werden würde.
»Meine einzige Hoffnung sind Sie, Herr Weide«, kam der Bankier zum Schluß. »Ich habe mich immer für einen Mann gehalten, dem nichts unmöglich ist. Aber in diesem Fall bin ich machtlos. Und dabei steht das Leben meines Sohnes auf dem Spiel.«
Neugierig blickte Ahimaaz dem Millionär in das hochrote Gesicht. Man sah, daß der Mann es nicht gewöhnt war, Gefühle zu zeigen. Jetzt zum Beispiel, im Moment höchster Erschütterung, da ihm eine Träne aus dem einen Auge rann, verschoben sich die dicken Lippen zu einem törichten Lächeln. Das war interessant: Die Mimik dieses Gesichts, ungeübt in jeglicher Expressivität, brachte die Grimasse der Trauer nicht zustande.
»Wieviel?« fragte Ahimaaz.
Fechteis Adamsapfel zuckte wie im Krampf.
»Wenn der Junge am Leben bleibt - eine halbe Million Franken ... Französische, nicht belgische!« beeilte er sich hinzuzufügen, als der Gesprächspartner stumm blieb.
Ahimaaz nickte, worauf in den Augen des Bankiers zwei irrwitzige Flämmchen aufzuckten. Dieselben Flämmchen hatte er in den Augen jener närrischen Menschen am Spieltisch gesehen, die ihr ganzes Geld auf die Null setzten. Dieses Flämmchen hieß: Laß ein Wunder geschehen. Nur mit dem Unterschied, daß es sich gewiß nicht um des Bankiers ganzes Geld handelte.
»Und sollten Sie es fertigbringen, meinem Pierre ...«, dem Bankier stockte die Stimme, »... nicht nur das Leben, sondern die Freiheit zu schenken, dann kriegen Sie die ganze Million.«
Ein solches Honorar war Ahimaaz nie zuvor angeboten worden. Gewohnheitshalber rechnete er die Summe erst in englische Pfund um (knapp dreißigtausend), dann in amerikanische Dollar (fünf-undsiebzigtausend) und schließlich in Rubel (über dreihunderttausend). Es war wirklich viel Geld.
»Sagen Sie Ihrem Sohn, er soll alle psychiatrischen Expertisen ablehnen, sich schuldig bekennen und das Urteil der Geschworenen verlangen. Und Ihre teuren Anwälte können Sie nach Hause schicken. Ich finde selber einen.«
3
Etienne Licole bedauerte nur eines: daß die Mutter diesen Tag nicht mehr erleben durfte. Wie sehr hatte sie davon geträumt, ihr Junge möge es zum Anwalt bringen und die schwarze Robe mit dem rechteckigen weißen Binder tragen. Die Studiengebühren für die Universität hatten ihre ganze Witwenpension aufgefressen; bei den Ärzten und Arzneien war sie hingegen geizig gewesen und darum im letzten Frühjahr verstorben. Etienne biß die Zähne zusammen, gönnte sich keine Müdigkeit. Tagsüber lief er in die Vorlesungen, nachts studierte er die Lehrbücher - und eines Tages hatte er tatsächlich das ersehnte Diplom mit dem königlichen Siegel in der Hand. Die Mutter hätte stolz auf ihren Sohn sein dürfen.
Die anderen Absolventen seines Jahrgangs, die sich wie er nun Advokaten nennen durften, luden ihn in ein Landgasthaus ein, wo sie die »Robe begießen« wollten, doch Etienne lehnte ab. Nicht nur, daß er kein Geld für Orgien hatte, er wollte an solch einem Tag lieber allein sein. Langsam schritt er die breite marmorne 146
Freitreppe vor dem Justizpalast hinab, wo die feierliche Zeremonie stattgefunden hatte. Die ganze Stadt mit ihren von Häubchen, Spitztürmchen und Statuen gekrönten Dächern lag ihm hier zu Füßen. Etienne blieb stehen und genoß den Anblick, der freundlich und einladend auf ihn wirkte. Brüssel schien den frischgebackenen Maitre Licole mit offenen Armen zu empfangen und ihm jede Menge Überraschungen zu verheißen - vor allem natürlich positive.
Daß ein Diplom noch nicht die höchste Erfüllung war, stand außer Frage. Ohne Beziehungen, ohne nützliche Bekanntschaften fand man nicht zu einer guten Klientel. Und eine eigene Kanzlei einzurichten fehlte ihm ohnehin das Geld. Fürs erste würde er bei Maitre Wiener oder Maitre van Helen als Gehilfe unterkommen müssen. Aber das war ja auch nicht ganz schlecht - ein gewisses Gehalt würden sie ihm schon zugestehen.
Etienne Licole preßte die Mappe, in der das Diplom mit dem roten Siegel lag, gegen seine Brust, hielt sein Gesicht in die warme Septembersonne und blinzelte vor Wonne.
In dieser törichten Pose traf Ahimaaz Weide ihn an.
Noch im Saal, während die langweiligen, aufgeblasenen Reden gehalten wurden, hatte er sich den Burschen ausgeguckt. Vom Typ her paßte er ideaclass="underline" nett anzuschauen, doch kein Schönling. Schlank, mit schmalen Schultern und offenem, ehrlichem Blick. Als er nach vorn trat, den Eid zu leisten, zeigte sich, daß er auch die richtige Stimme hatte - volltönend, jungenhaft, zitternd vor Erregung. Und das Beste an ihm war, daß man sofort sah: Er war keines von diesen adligen Schnöselchen, sondern ein Plebejerkind, tüchtig und bescheiden.
Da die Zeremonie ewig kein Ende fand, nutzte Ahimaaz die Zeit, um ein paar Erkundigungen einzuholen, die die letzten Zweifel zerstreuten: Das Material war ideal. Was noch zu tun blieb, waren Bagatellen.
Leise trat er an den mageren Jungen heran und hüstelte.
Etienne zuckte zusammen, schlug die Augen auf und drehte sich um. Vor ihm stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein Herr im Reisemantel, Spazierstock im Arm. Die Augen des Unbekannten blickten ernst und aufmerksam. Ihre Farbe war ungewöhnlich. Es war eigentlich überhaupt keine Farbe, ganz blaß und hell.
» Maitre Licole?« fragte der Mann mit einem leichten Akzent.
Es war das erste Mal, daß Etienne so angesprochen wurde, und es gefiel ihm.
Wie zu erwarten, ging erst einmal ein Leuchten über das Gesicht des Jungen, als er hörte, daß man ihm einen Fall anbot, um kurz darauf, als er den Namen des Mandanten hörte, in helles Entsetzen umzuschlagen. Solange er sich empörte, mit den Händen fuchtelte, behauptete, einen solchen Schuft, ein solches Scheusal niemals und um keinen Preis verteidigen zu wollen, ließ Ahimaaz ihn reden.
Erst als Licoles Reservoir an Entrüstung erschöpft war und er nuschelte: »So ein Fall ist viel zu groß für mich. Ich bin noch sehr unerfahren, müssen Sie wissen. Ich hab doch eben erst mein Diplom gemacht!« - da bequemte Ahimaaz sich zu einer Erwiderung.
»Heißt das, Sie wollen lieber erst mal zwanzig oder dreißig Jahre für ein Butterbrot arbeiten? Anderen Advokaten die Taschen füllen? Bevor Sie auf die Art die nötigen Centimes zusammenhaben, um sich eine eigene Praxis zu leisten, schreiben wir das Jahr 1900, und Sie sind ein kahlköpfiger, zahnloser, leberkranker Zausel, dem alle Lebenssäfte versiegt sind. Sie rinnen Ihnen durch die Finger, mein lieber Maitre - für ein paar jämmerliche Groschen. Was ich Ihnen anzubieten habe, ist etwas viel Größeres, und Sie kriegen es sofort. Mit ihren dreiundzwanzigjahren können Sie sich ordentlich Kapital und einen glänzenden Namen verschaffen. Und zwar selbst dann, wenn Sie den Prozeß verlieren sollten. Der Name zählt in Ihrem Berufsstand mehr als alles Geld. Zugegeben, Ihr Ruhm wird einen etwas skandalösen Beigeschmack haben, doch das ist besser, als ein Leben lang als Laufbursche dahinzudämmern. Geld werden Sie jedenfalls genug verdienen, um hinterher eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Mag sein, daß viele Sie hassen werden. Doch es wird genug Leute geben, die den Mut eines jungen Advokaten, der der ganzen Gesellschaft die Stirn zu bieten wagt, gebührend zu würdigen wissen.«