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Ahimaaz gab dem Grünschnabel ein Minütchen Zeit, das Gehörte zu überdenken. Dann ging er zum zweiten Teil der Attacke über, mit dem, wenn er die Zeichen richtig deutete, der Junge endgültig zu knacken war.

»Oder ist Ihnen einfach bloß bange? Habe ich Sie nicht vorhin den Eid aufsagen hören: >für Recht und Gerechtigkeit und jedermanns Anrecht auf gerichtliche Verteidigung zu bürgen, allen Anfechtungen und allem Druck zu widerstehen?< Wissen Sie, warum ich von allen Absolventen gerade Sie ausgesucht habe? Weil Sie der einzige waren, der diese Worte aus tiefstem Herzen gesprochen hat. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck.«

Etienne sagte nichts. Er merkte nur voller Entsetzen, daß ein Strom ihn mitreißen wollte, dem sich zur Wehr zu setzen ganz unmöglich war.

»Und was die Hauptsache ist«, fuhr der Unbekannte, die Stimme deutlich senkend, fort, »Pierre Fechtel ist unschuldig. Er ist beileibe kein Rattenfänger, sondern Opfer unglücklicher Umstände und einer brutalen polizeilichen Verhörtaktik. Wenn Sie nicht einschreiten, wird ein Unschuldiger ans Schafott geliefert. Einfach werden Sie es nicht haben. Eine Flut von Beleidigungen wird über Sie hereinbrechen, keiner wird gern zugunsten eines >Monsters< aussagen wollen. Doch Sie werden nicht allein sein. An Ihrer Seite stehe ich. In Ihrem Schatten bleibend, werde ich Ihnen sozusagen Auge und Ohr sein. Ein paar Indizien habe ich schon zusammen. Wenn sie auch vielleicht noch nicht den vollständigen Beweis für Pierre Fechtels Unschuld liefern, so vermögen sie doch die An schuldigungen der Anklage heftigst in Zweifel zu ziehen. Und ich liefere Ihnen noch mehr.«

»Was sind das denn für Indizien?« fragte Etienne mit schwacher Stimme.

4

In den kleinen, für einhundert Personen vorgesehenen Saal des Merlener Stadtgerichts hatten sich mindestens dreihundert Besucher gezwängt, noch mehr Menschen drängten sich auf dem Korridor und draußen unter den Fenstern.

Das Erscheinen des Staatsanwalts Renan war mit donnerndem Applaus begrüßt worden. Als aber nun der Delinquent hereingeführt wurde, ein blasser Mann mit schmalen Lippen, engstehenden schwarzen Augen und vormals gepflegtem, jetzt zerzaustem und wildwucherndem Backenbart, trat erst einmal Totenstille ein, bevor ein solcher Sturm losging, daß dem Richter, Maitre Vicksen, die Glocke zerbrach, die er schwingen mußte, um die Anwesenden zur Ordnung zu mahnen.

Als nächstes rief der Richter die Verteidigung auf, und erst jetzt wurde man des schmächtigen jungen Mannes gewahr, dem die weite Anwaltsrobe sichtlich zu groß war. Abwechselnd rot und blaß werdend, stammelte Maitre Licole etwas, das man kaum verstand; dann aber, auf die unwirsche Frage des Richters, ob denn der Angeklagte sich schuldig bekenne, gellte die Stimme des jungen Anwalts plötzlich durch den Saaclass="underline" »Nicht schuldig, Euer Ehren!«

Wieder wogte das Publikum in heller Entrüstung.

»Dabei sieht er doch wie ein anständiger Junge aus!« rief eine Frau.

Der Prozeß ging über drei Tage. Am ersten Tag wurden die Zeugen der Anklage gehört.

Zunächst die Polizeibeamten, die die Schreckenskammer entdeckt und den in Haft Genommenen verhört hatten. Den Worten des Kommissars zufolge habe Pierre Fechtel, am ganzen Leibe schlotternd, widersprüchliche Aussagen zu Protokoll gegeben, keine Erklärungen liefern können, doch für den Fall, daß sie die Finger von ihm ließen, viel Geld angeboten.

Der Gärtner, der der Polizei die verdächtigen Schreie angezeigt hatte, war nicht vor Gericht erschienen, doch man konnte gut auf ihn verzichten. Der Staatsanwalt rief Zeugen auf, die Fechtels losen Lebenswandel und seine Verderbtheit anschaulich zu schildern wußten. Immer habe er in den Bordellen nach den jüngsten und zartesten Mädchen verlangt. Eine Madame, Vorsteherin eines dieser Institute, berichtete, der Angeklagte habe ihre »Töchterlein« mit glühenden Ondulierzangen malträtiert, und die Armen hielten still, da der Schuft ihnen jedes Brandmal mit einem Goldfranken vergolt.

Stürmischer Beifall brach im Saal los, als der Mann, der gesehen hatte, wie die Kutsche mit dem Blumenmädchen Lucille Lanout davonfuhr (dessen Kopf sich später mit ausgestochenen Augen und abgeschnittener Nase im Bottich wiederfand), in Fechtel den Herrn erkannte, der dem Kind sein mechanisches Klavier in höchsten Tönen schmackhaft gemacht hatte.

Den Geschworenen wurden die Corpora delicti präsentiert: Foltergerätschaften sowie ein photographischer Apparat nebst Platten, die in der Geheimkammer sichergestellt worden waren. Es folgte der Zeugenauftritt des Monsieur Brülle, welcher Pierre Fechtel drei Jahre zuvor in der Kunst der Photographie unterwiesen hatte.

Schließlich wurde den Geschworenen ein Album mit photographischen Aufnahmen vorgelegt, das gleichfalls in der greulichen Kammer gefunden worden war. Publikum und Presse bekamen die Photographien nicht zu sehen, doch es reichte mitanzusehen, wie einer der Geschworenen in Ohnmacht fiel, ein anderer sich übergeben mußte. Währenddessen saß Advokat Licole wie ein braver Schüler über sein Heft gebeugt und trug alle Aussagen gewissenhaft ein. Als auch er sich die Bilder ansehen mußte, wurde er kreideweiß und schwankte auf seinem Stuhl.

»Schau's dir gut an, du Schlappschwanz!« rief es aus dem Publikum.

Am Abend, nach Schließung der Sitzung, gab es einen Zwischenfalclass="underline" Als Licole den Saal verließ, trat die Mutter eines der ermordeten Mädchen auf ihn zu und spuckte ihm ins Gesicht.

Am zweiten Tag wurden die Zeugen von der Verteidigung befragt. Maitre Licole erkundigte sich bei den Polizeibeamten, ob sie den Delinquenten während des Verhörs angeschrien hätten. (»Nein, wir haben ihn geküßt!« lautete die sarkastische Erwiderung des Kommissars unter dem beifälligen Gelächter des Saales.)

Vom Zeugen der Entführung der Lucille Lanout wollte der Anwalt wissen, ob er dem Mann, mit dem das Blumenmädchen davongefahren war, ins Gesicht habe sehen können. Das nicht, antwortete der Zeuge, aber an den Backenbart erinnere er sich sehr genau.

Ferner interessierte sich Maitre Licole dafür, welcherart die von Pierre Fechtel in der Zeit seiner amateurphotographischen Versuche bei Monsieur Brülle gefertigten Aufnahmen gewesen waren. Wie sich herausstellte, ging es um Stilleben, Landschaften und neugeborene Kätzchen. (Diese Mitteilung wurde mit Pfiffen und Johlen quittiert, worauf der Richter die Hälfte des Publikums aus dem Saal wies.) Zuletzt verlangte der Anwalt, den Gärtner als Hauptzeugen der Anklage dem Gericht zwangsweise vorzuführen, worauf die Sitzung für eine Stunde unterbrochen wurde.

Während der Pause kam der Cure des Städtchens auf Licole zu und fragte ihn, ob er an Jesus Christus, unseren Herrn glaube. Licole erwiderte, jawohl, er glaube an ihn, und Christus habe Barmherzigkeit gegen jeden Sünder gepredigt.

Nach Wiederaufnahme der Sitzung verkündete ein Polizist, der Gärtner sei nicht da und schon drei Tage nicht gesehen worden. Der Anwalt dankte höflich und sagte, er habe keine weiteren Fragen an die Zeugen.

Nun schlug die große Stunde des Staatsanwalts. Er unterzog den Angeklagten einem glänzenden Verhör. Auf keine der Fragen vermochte Pierre Fechtel eine überzeugende Antwort zu geben. Die photographischen Aufnahmen, die man ihm vorlegte, betrachtete er lange, schluckte nur. Anschließend hatte er die Stirn zu behaupten, er sehe sie zum ersten Mal. Auf die Frage, ob der Photoapparat der Marke Weber & Söhne sein Eigentum sei, beriet er sich flüsternd mit seinem Anwalt und sagte, ja, der gehöre ihm, doch habe er schon vor einem Jahr jegliches Interesse an der Photographie verloren, den Apparat in die Dachkammer gestellt und seither nicht mehr gesehen. Die Frage, ob der Angeklagte den Eltern der Mädchen in die Augen sehen könne, wurde im Saal heftig beklatscht, doch auf Antrag der Verteidigung zurückgewiesen.