Als Etienne am Abend ins Hotel kam, fand er seine Sachen vor die Tür geworfen. Er litt Höllenqualen, während er, hochrot im Gesicht und auf allen vieren kriechend, seine gestopften Strümpfe und die zerknautschten Chemisetten mit Papierkragen aus dem Staub klaubte.
Eine Menschenmenge hatte sich eingefunden, die Szene zu genießen, und überhäufte den »Schlawiner« mit Flüchen. Als Etienne seine Sachen endlich in der neuen, eigens für die Reise gekauften Tasche verstaut hatte, baute sich der Schankwirt vor ihm auf und verpaßte ihm kurzerhand zwei Ohrfeigen. »Da hast du dein Zusatzhonorar!« - so der gebrüllte Kommentar.
Weil auch keines der übrigen drei Merlener Hotels gewillt war, Licole aufzunehmen, stellte der Bürgermeister ihm das Häuschen des Stationswärters, der letzten Monat in Pension gegangen war und noch keinen Nachfolger gefunden hatte, als Nachtlager zur Verfügung.
Am nächsten Morgen zierte die frisch geweißte Wand des Häuschens eine Inschrift in Kohle: Verrecke, du Hund!
Am dritten Tag wuchs Staatsanwalt Renan über sich hinaus. Er hielt ein hervorragendes Plädoyer, das von zehn Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags dauerte. Schluchzen und Zetern im Publikum wollten kein Ende nehmen. Auch die Geschworenen, solide Herrschaften, von denen gewiß keiner unter fünfhundert Franken Steuer pro Jahr berappte, saßen erschüttert und zu Tränen gerührt.
Der Verteidiger war blaß. Das Publikum konnte sehen, wie er sich einige Male beinahe bittend nach seinem Mandanten umblickte. Doch der saß da, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, das Gesicht hinter den Händen vergraben. Als der Staatsanwalt die Todesstrafe forderte, erhob sich das Publikum wie ein Mann von den Stühlen und skandierte: »Aufs Scha-fott! Aufs Scha-fott!« Fechtels Schultern zuckten im Krampf, man mußte ihm Riechsalz vorhalten.
Nach der Mittagspause, um vier Uhr nachmittags, bekam die Verteidigung das Wort. Licole konnte lange nicht anfangen - absichtlich wurde mit den Füßen gescharrt und mit den Stühlen geknarrt, lautes Schneuzen ertönte. Krebsrot vor Aufregung, wartete der Advokat, knüllte sein in Musterschülerschrift beschriebenes Blatt in den Händen.
Doch nachdem er zu reden begonnen hatte, schaute Etienne kein einziges Mal mehr auf dieses Blatt. Sein Plädoyer, das die Abendzeitungen abdruckten und in denkbar herabwürdigender Weise kommentierten, soll hier im Wortlaut folgen.
»Hohes Gericht, verehrte Herren Geschworene. Mein Mandant ist ein schwacher, sittenloser und verkommener Mensch. Doch nicht darüber soll hier gerichtet werden. Tatsache ist: Im Hause meines Mandanten, genauer, in einer geheimen Kellerkammer, von deren Existenz Pierre Fechtel nicht gewußt haben muß, wurde ein schreckliches Verbrechen verübt. Eine ganze Serie von Verbrechen. Die Frage ist nur: durch wen. (Zwischenruf: »Verzwickte Frage!« Gelächter im Saal.) Die Verteidigung hat hierzu eine eigene Version. Meiner Mutmaßung zufolge ist der Gärtner Jean Voiture, welcher die Polizei über die rätselhaften Schreie unterrichtete, in Wirklichkeit der gesuchte Mörder. Dieser Mann hegte einen Haß auf seinen Brotherrn, da der ihm wegen unmäßiger Zecherei das Gehalt gekürzt hatte. Es gibt Zeugen, die diesen Umstand bestätigen können und nötigenfalls vorzuladen wären.
Dieser Gärtner hat einen sonderbaren, querköpfigen Charakter. Vor fünf Jahren lief ihm die Frau davon, nahm die Kinder mit sich. Bekanntlich entwickelt sich bei Leuten vom Schlage eines Voiture nicht selten eine krankhafte Empfindlichkeit, einhergehend mit Aggressivität. Der Gärtner hat die Beschaffenheit des Hauses gut gekannt, und es war ihm ein leichtes, ohne Wissen des Hausherrn eine geheime Kammer einzurichten. Ebenso einfach war es, den Photoapparat, für den sich Monsieur Fechtel nicht mehr interessierte, aus der Dachkammer zu entwenden und sich mit seiner Funktion vertraut zu machen. Da Monsieur häufig außer Haus weilte, konnte der Gärtner sich seiner Kleidung bedienen, er konnte sich jenen falschen Backenbart ankleben, an dem sein Herr so leicht zu erkennen ist. Meinen Sie nicht auch, daß Pierre Fechtel sich dieses markanten Merkmals schnell entledigt hätte, nachdem er derart schwerer Verbrechen schuldig geworden wäre? Verstehen Sie mich recht, verehrte Herren Geschworene: Ich behaupte nicht, daß der Gärtner dies alles getan hat, sondern nur, daß er es getan haben könnte. Und eine Frage ist vor allem interessant. Warum ist der Gärtner, nachdem er der Ermittlung den entscheidenden Anstoß gab, so plötzlich verschwunden? Hierfür kann es nur eine Erklärung geben: Er mußte fürchten, daß seine tatsächliche Verwicklung in den Fall vor Gericht offenkundig werden und ihn von daher die gerechte Strafe ereilen könnte...«
Bis hierhin war Maitre Licoles Vortrag flüssig, ja, geradezu lebhaft gewesen, nun aber stockte er.
»Noch eines möchte ich an dieser Stelle sagen ... Vieles an der Geschichte ist im dunkeln geblieben. Ehrlich gesagt, bin ich mir selbst im unklaren, ob mein Mandant schuldig ist oder nicht. Doch solange auch nur der Schatten eines Zweifels an seiner Schuld besteht - und derer gibt es etliche, wie ich Ihnen soeben demonstrieren durfte -, solange bleibt es untersagt, den Beschuldigten ans Messer zu liefern. An der Universität hat man mich gelehrt, daß es besser ist, einen Schuldigen freizusprechen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Das ist alles, was ich zu sagen habe, meine Herren.«
Um zehn Minuten nach vier war das Plädoyer des Verteidigers beendet. Er ging zurück an seinen Platz und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Im Saal ertönte vereinzelt Gelächter, doch insgesamt hinterließ die Rede einen durchaus gemischten Eindruck. Der Gerichtsreporter des »Soir« hörte zufällig die Bemerkung des berühmten Anwalts Jan van Brewern zu einem neben ihm sitzenden Kollegen (und zitierte sie daraufhin natürlich):
»Im Grunde hat der Junge recht. Ich meine, vom höheren Standpunkt der Jurisprudenz aus gesehen. Aber am gegebenen Fall ändert das gar nichts.«
Der Richter betätigte sein Glöckchen, schüttelte mißbilligend den Kopf und bedachte den dilettantischen Verteidiger mit einem scheelen Blick.
»Ich war davon ausgegangen, daß Maitre Licoles Plädoyer den Rest der heutigen Sitzung und den Beginn des morgigen Tages in Anspruch nimmt, so daß ich jetzt, äh, in der peinlichen Lage bin ... Ich erkläre die heutige Sitzung für geschlossen. Mein Empfehlungswort an die Herren Geschworenen hören Sie morgen früh. Daran anschließend werden Sie, meine Herren, sich zur Urteilsfindung zurückziehen.«
Doch am nächsten Morgen fand keine Sitzung statt.
In der Nacht hatte es gebrannt. Das Stationswärterhäuschen war angezündet worden. Maitre Licole verbrannte bei lebendigem Leib, da die Tür von außen zugesperrt war. An der verrußten Außenwand stand der Spruch Verrecke, du Hund! noch immer zu lesen - niemand hatte sich bequemt, ihn zu tilgen. Zeugen für die Brandstiftung gab es keine.
Der Prozeß wurde für einige Tage ausgesetzt. In der öffentlichen Meinung ging ein feiner, doch unübersehbarer Sinneswandel vor. Die Zeitungen druckten die letzte Rede des Maitre Licole noch einmal ab, nunmehr ohne Gehässigkeiten, sondern mit anteilnehmenden Kommentaren hochgeschätzter Rechtskundler. Ergreifende Reportagen erschienen, die das kurze und entbehrungsreiche Leben eines Burschen aus armen Verhältnissen schilderten. Fünf Jahre hatte er an der Universität gebüffelt, um eine Woche Anwalt zu sein. Dazu gab es Porträtzeichnungen: Ein Jungengesicht blickte den Leser aus großen, ehrlichen Augen an.
Die Anwaltskammer veröffentlichte eine Deklaration zum Schutze der freien und objektiven Rechtsprechung, wider alle Erpressungsversuche einer aufgeheizten, vergeltungssüchtigen Öffentlichkeit.