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Die abschließende Sitzung fand am Tag nach der Beisetzung statt.

Zunächst ehrten die im Saal Versammelten auf Vorschlag des Richters das Andenken Etienne Licoles mit einer Schweigeminute. Alle, auch die Eltern der getöteten Mädchen, erhoben sich von den Plätzen. Richter Vicksen mahnte die Geschworenen in seinem Empfehlungswort, sich keinem Druck von außen zu beugen, und erinnerte daran, daß einem Antrag auf Todesstrafe stattzugeben sei, wenn mindestens zwei Drittel der Beisitzer auf »schuldig« im Sinne der Anklage plädierten.

Die Geschworenen berieten geschlagene viereinhalb Stunden lang. Sieben der zwölf Geschworenen plädierten für »nicht schuldig« und forderten das Gericht auf, Pierre Fechtel wegen Mangels an Beweisen freizusprechen.

Der unangenehme Teil der Arbeit war sauber ausgeführt worden. Die Leiche des Gärtners lag in einer Grube mit ungelöschtem Kalk. Und was den jungen Advokaten anging, so starb er ohne Angst und Qualen: Ahimaaz tötete ihn im Schlaf, bevor er das Wärterhäuschen in Brand steckte.

»ZUR TREUE«

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In seinem vierzigsten Lebensjahr spielte Ahimaaz Weide mit dem Gedanken, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen.

Nicht, daß er die Arbeit satt gehabt hätte - sie verschaffte ihm immer noch Befriedigung, brachte sein kaltes Blut ein wenig in Wallung. Auch war er bestimmt nicht schlechter in Form als früher, im Gegenteil, der Gipfel seiner Reife und Meisterschaft schien eben erreicht.

Der Grund war ein anderer. Die Arbeit hatte ihren Sinn eingebüßt.

Der eigentliche Vorgang des Tötens bereitete Ahimaaz kein Vergnügen - von jenen höchst seltenen Fällen abgesehen, wo persönliche Ambitionen eine Rolle spielten. Mit dem Töten verhielt es sich einfach. Ahimaaz war allein im Universum. Doch war er allseits umgeben von fremdem Leben in verschiedenster Form: Pflanzen, Tieren, Menschen. Dieses Leben war ständig in Bewegung: Es kam zur Welt, verwandelte sich, hörte auf. Seine Metamorphosen mitanzusehen war interessant; noch interessanter war es jedoch, einzugreifen. Wurde auf einem bestimmten Abschnitt des Universums alles Lebendige ausgemerzt, änderte sich davon im Ganzen wenig - schnell hatte die Natur in ihrer bewundernswürdigen Zähigkeit die entstandene Bresche gefüllt. Manchmal erschien das Leben Ahimaaz wie ein üppig sprießender Rasen, in den seine Sense eine Schicksalsschneise zog. Akkuratesse und Übersicht machten sich hier bezahlt: Kein störendes Hälmchen durfte stehenbleiben und keines zuviel durfte angeta 154

stet werden, damit die saubere, ebenmäßige Kontur nicht verlorenging. Wenn Ahimaaz zurückschaute, sah er nicht das gemähte Gras, sondern die ideale Kurve seines Weges.

Zweierlei hatte ihn bislang bei seiner Arbeit stimuliert: die Lösung zu finden war das eine, Geld zu verdienen das andere.

Ersteres konnte Ahimaaz mittlerweile nur noch wenig reizen -richtig knifflige Aufgaben, die zu lösen Spaß machte, gab es kaum mehr für ihn.

Doch auch letzteres verlor allmählich seinen Sinn.

Auf seinem Bankkonto in Zürich hatte er fast sieben Millionen Schweizer Franken liegen. Im Schließfach der Bering Bank in London lagerten Wertpapiere und Goldbarren für fünfundsiebzigtau-send Pfund Sterling.

Wieviel Geld braucht jemand, der weder Kunst noch Brillanten sammelt, weder ein Finanzimperium errichtet, noch von politischem Ehrgeiz besessen ist?

Ahimaaz' Ausgaben waren ziemlich konstant: zwei- bis dreihunderttausend Franken pro Jahr allgemeine Spesen zuzüglich einhunderttausend Unterhaltskosten für seine Villa. Die hatte er schon im vorletzten Jahr gekauft und vollständig abbezahlt, insgesamt zweieinhalb Millionen. Nicht gerade billig, doch mit vierzig will der Mensch sein eigenes Haus haben. Familie muß nicht sein, das ist eine Frage der Mentalität. Ein Haus muß sein.

Ahimaaz war mit seinem Obdach zufrieden. Das Haus entsprach voll und ganz dem Charakter seines Besitzers. Es war eine weiße Marmorvilla, nicht sehr groß, auf einem Steilfelsen über dem Genfer See klebend. Nach der einen Seite nichts als die leere Weite, nach der anderen ein Zypressenstreifen. Hinter dem Zypressenstreifen eine hohe Mauer, noch dahinter der schroffe Abhang.

Stundenlang konnte Ahimaaz auf der Veranda sitzen, die über der glatten Wasserfläche zu schweben schien, und hinausschauen auf den See und die fernen Berge. See und Berge waren ebenso Formen des Lebens, doch ohne das Gewimmel und Gewese, wie Fauna und Flora es an sich hatten. Diese Formen hier waren nur schwer anzutasten, auf sie hatte er keinen Zugriff, und darum respektierte er sie.

Zwischen den Zypressen auf seinem Grundstück schimmerte ein schmuckes kleines Gartenhaus mit runden Ecktürmchen. Dort wohnte Leila, seine Tscherkessin. Ahimaaz hatte sie vorigen Herbst aus Konstantinopel mitgebracht. Den monatlichen Bezug professionell arbeitender Frauen über die Pariser Agentur hatte er seit langem eingestellt - es war der Moment eingetreten, da er zwischen ihnen kaum noch einen Unterschied ausmachte. Sein Geschmack war zur Reife gekommen.

Eine Frau mußte schön sein, aber nicht puppenhaft, mit natürlicher Grazie, nicht allzu redselig, leidenschaftlich, ohne zudringlich zu werden, sie durfte die Nase nicht überall hineinstecken; vor allem aber mußte sie über jenen weiblichen Instinkt verfügen, mit dem sie die Launen und Wünsche eines Mannes unfehlbar erspürte. Leila war die nahezu ideale Frau. Den ganzen Tag konnte sie damit zubringen, ihr schwarzes Haar zu kämmen, zu singen und allein mit sich Tricktrack zu spielen. Nie schmollte sie, nie forderte sie Zuwendung. Außer ihrer Muttersprache verstand sie nur Türkisch und Tschetschenisch, weshalb Ahimaaz als einziger mit ihr sprechen konnte; dem Diener machte Leila sich durch Gesten verständlich. Verlangte es Ahimaaz nach Unterhaltung, wußte sie zahllose amüsante Histörchen aus dem Konstantinopeler Leben zu erzählen - früher hatte Leila im Harem eines Großwesirs gelebt.

In letzter Zeit nahm Ahimaaz nur noch wenig Aufträge an, zwei, drei pro Jahr: Sie mußten schon eine hübsche Stange Geld oder aber eine andere, besondere Form der Entlohnung einbringen. Vorigen März zum Beispiel erging ein Geheimauftrag der italienischen Regierung an ihn: den Anarchisten Gino Zappa, genannt der Schakal, aufzustöbern und zu liquidieren, der es auf das Leben von König Umberto abgesehen hatte. Ein Terrorist, der dem Vernehmen nach äußerst gefährlich und partout nicht zu fangen war.

Der Fall selbst war nicht weiter schwierig - Ahimaaz ließ den Schakal von Gehilfen ausfindig machen, worauf er nur noch nach Lugano reisen und einmal kurz auf den Abzug drücken mußte. Bemerkenswert daran war einzig das avisierte Honorar. Es bestand zum einen in einem italienischen Diplomatenpaß, ausgestellt auf Cavaliere Weide, zum anderen im Vorkaufsrecht für die Insel Santa Croce im Mare Tirreno. Hätte Ahimaaz das Recht in Anspruch genommen und dieses Eiland erworben, wäre ihm außer dem Titel eines Cavaliere di Santa Croce auch der Status der Exterritorialität zugefallen, der besonders verlockend war. Sein eigener Herr sein, seine eigene Polizei und sein eigener Richter? Nicht übel.

Aus Neugier fuhr Ahimaaz sich die Insel anschauen und war ganz bezaubert. Es gab dort nichts Sensationelles: nur Felsen, ein paar Olivenhaine, eine Bucht. Zu Fuß ließ sich die Insel in einer Stunde umrunden. Die letzten vierhundert Jahre hatte hier niemand mehr gewohnt, nur selten einmal legten Fischer an, um ihre Trinkwasservorräte aufzufüllen.

Die Grafenwürde reizte Ahimaaz mäßig, obwohl einem, wenn man in Europa unterwegs war, solch ein schillernder Titel mitunter nützlich sein konnte. Eine eigene Insel aber ...

Hier hätte er allein sein können mit sich, dem Himmel und dem Meer. Hier ließ sich eine eigene Welt erschaffen, die einzig ihm gehörte. Das war verführerisch.

Sich zur Ruhe setzen. Dahinsegeln, Bergziegen jagen, das Gefühl haben, daß die Zeit stillsteht und von der Ewigkeit nicht zu unterscheiden ist.