»Miß Talley!« rief er sie an. »Fahren Sie sofort wieder in die Stadt zurück! Rufen Sie bei der Staatspolizei an, und ...«
Zu spät. Er hörte Hufschläge – ein Stier raste die Straße entlang und war nur noch fünfzig Meter von dem Volkswagen entfernt. In diesem Augenblick erkannte Doc instinktiv die Chance, die sich ihm damit bot. Wenn er den Stier außer Gefecht setzen konnte, ohne ihn dabei tödlich zu verwunden ...
Er rief Miß Talley zu, daß sie in ihrem Auto bleiben solle, rannte in den Hof hinaus und hob die Schrotflinte. Wenn er die Entfernung richtig schätzte und niedrig genug hielt, um nur die Beine zu treffen ...
Doc zielte gut, aber in der Aufregung schoß er etwas zu früh. Die Schrotladung traf den Stier, ohne ihn ernsthaft genug zu verletzen. Er stieß ein wütendes Brüllen aus und stürmte nun auf Doc, anstatt auf den Volkswagen los. Der zweite Schuß – aus nur fünf Meter Entfernung abgefeuert – mußte wirksamer sein, wenn Doc sein Leben lieb war. Glücklicherweise war er es auch; der Stier brach in die Knie zusammen und fiel auf die Seite.
Doc riß die Tür des Volkswagens auf. »Beeilen Sie sich, Miß Talley! Schnell in das Haus! Im Augenblick haben wir nichts zu befürchten, aber der nächste Angriff kommt bestimmt bald.«
Er rannte neben ihr her. Die Schrotflinte war leergeschossen, die Munition lag auf dem Tisch im Wohnzimmer. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah nach oben. Dort kreiste ein großer Vogel – aber wenn er sie angreifen sollte, war er zu spät aufgetaucht. Doc schloß die Haustür hinter sich.
Während er die Schrotflinte nachlud, gab er Miß Talley einen kurzen Bericht der Ereignisse, die sich gestern und heute abgespielt hatten.
»Oh, Doktor!« rief sie aus. »Hätte ich doch nur darauf bestanden, daß der Sheriff ... Ich habe ihn gestern nachmittag angerufen. Er wollte nicht recht glauben, daß Sie Hilfe brauchten, aber dann versprach er mir doch, daß er hinausfahren würde. Ich konnte ihn erst heute morgen wieder erreichen und erfuhr, daß er noch nicht hatte zu Ihnen fahren können – und daß er wahrscheinlich erst morgen Zeit dafür haben würde. Ich nehme an, daß er sich nicht übermäßig beeilen wird, denn er schien meine Besorgnis für ziemlich übertrieben zu halten.«
»Morgen ...« Doc schüttelte den Kopf und machte ein düsteres Gesicht. »Das schaffe ich nie – so lange wach zu bleiben, meine ich. Und wenn ich einschlafe ... Sie hätten nicht kommen dürfen, Miß Talley; jetzt sitzen Sie mit in der Tinte.«
»Glauben Sie nicht, daß wir es in meinem Wagen bis in die Stadt schaffen würden? Wenn ich fahre, damit Sie schießen können?«
»Die Aussichten dafür stehen eins zu hundert, Miß Talley. Erstens stehen hier auf jeder Weide Kühe und Stiere, zweitens lebt in dem Wald genügend Wild – Bären, Hirsche und Wildkatzen – und drittens möchte ich wetten, daß ein einigermaßen schwerer Vogel das Dach ihres Volkswagens glatt durchschlägt, wenn er im Sturzflug herunterstößt. Wann wird man Sie vermissen? Fällt es Ihren Nachbarn auf, wenn Sie heute nicht nach Hause kommen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Manchmal besuche ich meine Schwägerin in Green Bay und bleibe dann jedesmal über Nacht bei ihr. Meine Nachbarn wissen davon und machen sich bestimmt keine Sorgen um mich. Hätte ich doch nur die Staatspolizei angerufen, anstatt selbst herzukommen! Aber daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«
Staunton machte eine müde Handbewegung. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Miß Talley. Ich habe den ersten Fehler begangen – die ersten beiden Fehler. Ich hätte die eine Nacht nach dem Selbstmord der Katze nicht mehr hier schlafen dürfen – und vor allem nach Jim Kramers Tod nicht noch einmal herkommen sollen, um meine Sachen zu holen. Das war der große Fehler, der mich in diese Lage gebracht hat.« Er gähnte.
»Trinken wir eine Tasse Kaffee. Bisher habe ich ihn kalt getrunken, aber nachdem ich jetzt Gesellschaft habe, möchte ich einen heißen. Ich werde mich sogar hinsetzen und Sie den Kaffee kochen lassen – wenn Sie sich dauernd mit mir unterhalten. Vielleicht fällt uns etwas ein. Wir müssen uns etwas einfallen lassen!«
In der Küche setzte er sich doch lieber nicht auf einen Stuhl, sondern lehnte sich nur gegen die Wand, während Miß Talley Kaffee kochte. Er bestritt den größten Teil der Unterhaltung selbst, weil er mehr zu berichten hatte.
»Der Fremde ...«, unterbrach ihn Miß Talley energisch, als er den unsichtbaren Feind zum erstenmal erwähnte. »Doktor, warum sollen wir nicht zugeben, daß wir gegen ein außerirdisches Wesen kämpfen – oder uns jedenfalls dagegen verteidigen? Was könnte es denn sonst sein?«
»Ein menschlicher Mutant, der sein angeborenes oder erworbenes Talent auf diese Weise mißbraucht.«
»Halten Sie das wirklich für möglich?«
»Nein«, gab Doc zu. »Auch die andere Möglichkeit ist unwahrscheinlich – daß es sich um einen Dämon handelt. Aber ich will mich nicht festlegen, deshalb nenne ich das Wesen ›Feind‹. Streiten wir uns doch nicht um einen Namen, Miß Talley. Wir haben genügend andere Sorgen. Wie stehen zum Beispiel meine Chancen? Ich kann natürlich immer noch hoffen, daß ich mich irre, wenn ich annehme, daß der Feind mich – oder vielmehr uns – hier eingesperrt hält, bis ich endlich einschlafe.«
»Haben Sie einen Vorschlag?« erkundigte sich Miß Talley.
Er beschrieb ihr seinen Plan, der daraus bestand, daß er einen der Wirte seines Gegners bewegungsunfähig machen wollte. »Aber«, fügte er hinzu, »es ist nicht leicht, ein größeres Tier mit einer Schrotflinte so zu verwunden, daß es weder weiter angreifen noch Selbstmord begehen kann. Es müßte sich zumindest ein Bein brechen.«
»Haben Sie kein Gewehr?«
»Nur ein Kleinkalibergewehr, das noch draußen im Auto liegt. Ich würde es hereinholen, wenn ich die langen Patronen dafür hätte, aber leider habe ich nur kurze mitgenommen. Außerdem habe ich noch eine Pistole, aber ich bin ein zu schlechter Schütze, als daß ich damit einem angreifenden Tier gegenübertreten könnte.«
Er schüttelte müde den Kopf. »Der Feind scheint etwas von meinem Plan zu ahnen, deshalb benutzt er meistens Vögel. Ein Vogel ist auf jeden Fall tot, wenn er auf den Boden aufschlägt – selbst wenn ich ihn vorher nur leicht verwundet hätte ... Mein Gott, bin ich müde!«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Unterhalten Sie sich mit mir, hören Sie mir zu. Ich bin übrigens in einen Hungerstreik getreten, um wach zu bleiben, aber Sie dürfen ruhig essen, wenn Sie hungrig sind. Der Kühlschrank arbeitet seit gestern nicht mehr, aber in der Speisekammer stehen alle möglichen Konserven.«
Sie schenkte zwei Tassen Kaffee ein und brachte sie an den Tisch. »Danke, vorläufig habe ich noch keinen Hunger. Aber vielleicht sollte ich lieber noch zwei oder drei Kannen Kaffee kochen.«
»Bitte, gern. Weshalb?«
»Nachdem er die Stromversorgung unterbrochen hat, könnte es ihm vielleicht einfallen, auch noch die Gaszuführung zu stören. Und Sie brauchen unbedingt Kaffee, selbst wenn wir ihn beide kalt trinken müssen.«
»Ich glaube nicht, daß er das ohne menschliche Hilfe schaffen könnte. Das Ventil an der Propangasflasche läßt sich nur mit einem Schraubenschlüssel schließen. Aber die Idee ist trotzdem nicht schlecht.«
Miß Talley setzte frisches Wasser auf und kam dann an den Tisch.
»Wie steht es mit dem Wasser? Läßt sich das irgendwie abstellen? Sonst fülle ich lieber ein paar Eimer.«
»Das ist nicht nötig.« Doc erklärte ihr die Wasserversorgung des Hauses. »Die Pumpe, die das Wasser aus dem Brunnen in den Tank auf dem Dach fördert, ist leicht außer Betrieb zu setzen. Aber der Tank selbst ist sehr massiv. Er faßt tausend Liter und muß jetzt noch mindestens halb voll sein.«