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„He, ihr da, alle rauskommen!“, rief jemand von oben, und zur gleichen Zeit hörte man aus der Ecke ein lautes Ächzen wie von einem Albtraum.

„Rauskommen! Genug herumgelegen!“, wiederholte die Stimme.

Der Engel, der nicht geschlafen hatte, kletterte vom Tisch und trat in den von einem Lichtschein erhellten Flur, der von einer kleinen Lampe herrührte und in den Augen schmerzte. Er stieg die Treppe hinauf und blieb stehen, als er vier bewaffnete Rotarmisten vor sich sah.

„Setz dich erst einmal hin!“ Einer von ihnen klopfte mit der Hand auf die Bank neben dem Tisch.

Der Engel gehorchte.

Inzwischen waren auch die anderen aus dem Keller aufgetaucht. Auch sie sollten sich an den Tisch setzen. Der älteste Rotarmist trat einen Schritt vor, betrachtete die seltsame Runde, und sein Blick blieb an dem abgeschnittenen Sarafan hängen, den der Deserteur trug. Er grinste.

„Also“, sagte er, „wer kommt woher? Na?“

Als keine Antwort erfolgte, zeigte der Rotarmist auf den Burschen in Lumpen, kniff die Augen zusammen und fragte:

„Du! Von wo bist du geflohen?“

„Aus der Kolchose“, antwortete der Bursche mit zitternder Stimme.

„Aus welcher Kolchose?“

„Aus dem ‚Iljitsch-Vermächtnis‘.“

„Na so was…“, schüttelte der Rotarmist den Kopf. „Aus dem ‚Iljitsch-Vermächtnis‘ geflohen! Schämst du dich denn gar nicht?!“

„Doch…“, sagte der Bursche und senkte den Kopf.

„Ist das deine erste Flucht?“, bohrte der Rotarmist weiter.

„Mhm“, sagte der Bursche.

„Na gut“, seufzte der Rotarmist und richtete seinen Blick auf den Deserteur. „Und du?“

„Ich bin nicht geflohen, ich bin geschäftlich unterwegs… und hier hab ich um ein Nachtquartier gebeten…“, sagte dieser.

„Und wer hat dir ein Hemd aus einem Sarafan genäht? Deine Frau etwa?“ Der Rotarmist musste schmunzeln.

„Ja, meine Frau…“, nickte der Deserteur.

„Sagt er denn die Wahrheit?“, wandte sich der Rotarmist an den Hausherrn um, der vor Schlafmangel ein bläuliches Gesicht hatte.

„Nein“, antwortete der Hausherr. „Das hat er mit mir getauscht. Er hat mir seine Uniform gegeben, und ich habe ihm das gegeben…“

„Oh, du Mistkerl!“ Beinahe hätte sich der Deserteur auf den Hausherrn gestürzt, aber er merkte rechtzeitig, dass einer der Rotarmisten ein Gewehr mit Bajonett auf ihn gerichtet hielt, und so setzte er sich wieder an seinen Platz.

„Also“, der Rotarmist schüttelte den Kopf. „Von wo bist du geflohen?“

„Vom achtunddreißigsten Kavallerie-Sondertrupp zur Ergreifung entflohener Kolchosbauern…“, sagte der Deserteur mit gesenkter Stimme.

„Na so was!“, schüttelte der Rotarmist wieder den Kopf. „Und wir sind vom neununddreißigsten motorisierten Sondertrupp ebenfalls zur Ergreifung… Bist du das erste Mal geflohen?“

„Das zweite Mal…“, bekannte der Deserteur.

„Alles klar.“ Der Rotarmist sah den Engel an. „Und du?“, fragte er.

„Ich…“ Der Engel wollte schon antworten, stockte jedoch, da er begriff, dass es keinen Sinn hatte, die Wahrheit zu sagen, aber die Unwahrheit, die diese Menschen allzu gern glauben würden, wollte er auch nicht sagen.

„Ein Spinner ist er!“, platzte der entflohene Kolchosbauer heraus. „Den Alten wollte er nicht totschlagen…“

„Das stimmt, ein Spinner!“, bestätigte der Deserteur, und der Rotarmist sah den Engel mit neu erwachtem Interesse an.

„Und wessen Uniform ist das?“

Der Deserteur zuckte die Achseln.

„Mich hat einer gebeten zu tauschen…“, sagte der Engel. „Ich habe ihm mein Gewand gegeben, und er mir das dafür…“

„Du hast also einem Deserteur geholfen!“, sagte der Rotarmist leise. „Das ist nicht gut. Dafür müssen wir dich mit einem entflohenen Kolchosbauern gleichsetzen. Aber das ist immerhin besser, als ein Deserteur der Roten Armee zu sein.“

Der Rotarmist sah den Deserteur unverwandt an, kaute auf seinen Lippen, während er über etwas Militärisches nachdachte, und fragte dann den Hausherrn:

„Haben sie viel gegessen?“

„Ja, sehr viel, natürlich. Ein halbes Pud Kartoffeln, vier Pfund Speck, zwei Hühner…“

„Du lügst!“, kreischte der entflohene Kolchosbauer auf. „Es gab kein Huhn, und vom Speck haben wir kaum etwas gehabt!“

„Das Huhn hat der Alte gegessen“, ergänzte der Hausherr. „Es steht ihm doch zu?!“

Der Alte nickte.

„Und wie gefällt es Ihnen hier, Väterchen?“, fragte der Rotarmist den Alten.

„Es geht, allemal besser als 1913 in der Katorga.“

„Sie werden schon noch sitzen…“

Der Alte richtete seinen müden Blick auf den Rotarmisten.

„Ich würde gerne hin und wieder spazieren gehen…“, bat er. „Na, junger Mann? Ist das möglich?“

„Nachts ist es möglich“, antwortete der Rotarmist. Dann drehte er sich zu den anderen Soldaten um, die hinter seinem Rücken standen, und kommandierte:

„Diese drei in den Laderaum, den Alten hier lassen, und dann bringt ihr noch zwei Kartoffelsäcke her.“

„Genosse Kommandant!“, wandte sich der Hausherr mit flehender Stimme an ihn. „Aber Sie haben doch noch Hirse und Hafer für drei Arbeitstage versprochen…“

„Das gibt es das nächste Mal“, sagte der Rotarmist so bestimmt, dass der Hausherr nickte und schwieg.

Der Engel, der Deserteur und der entflohene Kolchosbauer wurden von den Soldaten auf die Straße hinausgeführt, wo man ihnen befahl, in den Laderaum des Lastwagens zu klettern, in den auch die beiden Rotarmisten einstiegen. Ihr Kommandant sowie der andere Soldat, der unter anderem auch Chauffeur war, setzten sich in das Führerhaus des Wagens und starteten den Motor, ohne sich vom Hausherrn zu verabschieden, der sie hinausbegleitet hatte.

Der Motor heulte so heftig auf, dass sich von oben, vom wolkenlosen blauen Himmel, eine Sternschnuppe löste und vor den Augen des Hausherrn herunterfiel, unterwegs jedoch erlosch und infolgedessen unbemerkt und vermutlich auch weitab von ihnen aufprallte, weil beim Aufprall eines Sterns in der Nähe ein Donnern hätte zu hören sein müssen. Hier jedoch blieb alles still. Nur das sich entfernende Dröhnen des Wagens störte die nächtliche Stille und lenkte den Hausherrn von seinen Gedanken ab, die den übrigen Sternen galten, die hell und unbeirrt strahlten.

Kapitel 7

Am Morgen kam der Zug in der Hauptstadt an.

Als die ersten Gebäude vor dem Fenster auftauchten, fuhr Pawel hoch und machte sich zum Aussteigen bereit. Aber es kamen immer mehr Häuser und sie hörten gar nicht mehr auf, und da erst erfasste Dobrynin das Ausmaß der Hauptstadt. Er wartete also geduldig, und damit ihm das Warten nicht zu lang wurde, beschloss er, seinen Reisesack durchzusehen, den ihm seine Frau Manjascha für die Reise gepackt hatte. Als Erstes zog er die Axt hervor, die er zu guter Letzt von ihr bekommen hatte, dann ein Leinensäckchen mit Zwieback, etwas Hirse, einen Bleistift, ein leeres Haushaltsheft und ein loses Blatt Papier mit einigen Zeilen darauf. Er las sie durch. Manjascha bat ihn auf diesem Zettel, sie und die Kinder nicht zu vergessen und Briefe von allen Orten zu schreiben, an die es ihn beruflich verschlug. Sonst war nichts in dem Sack, und Pawel legte bis auf die Axt alles wieder dahin zurück. Er überlegte hin und her, was er mit der Axt machen sollte, es fiel ihm jedoch nichts ein. Einerseits war eine Axt ein nützlicher Haushaltsgegenstand, andererseits war es schwierig und irgendwie auch unangenehm, sie mit sich über Land zu führen. Er überlegte, sie im Zug zurückzulassen, doch diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder, da sie doch jedem beliebigen Menschen in die Hände hätte fallen können, und was, wenn ein Mörder sie fände und damit jemanden umbringen würde? Nein, im Abteil konnte man sie nicht zurücklassen. Der Schaffnerin geben? Was aber sollte sie damit? Brennholz wurde in den Zügen nicht gehackt, denn man heizte mit Kohlebriketts, und für andere Zwecke war die Axt nicht zu gebrauchen. Also beschloss er, sie vorerst einmal mitzunehmen und erst später zu entscheiden, was er mit ihr machen würde.