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Beim Aufwachen überlege ich, nach Paris zurückzukehren: Ich habe eine ausgezeichnete Entschuldigung, den Vortrag abzusagen. Die Organisatoren werden mich vollkommen verstehen − der Verkehr ist zusammengebrochen, die Straßen vereist, sowohl die spanische als auch die französische Regierung raten wegen akuter Unfallgefahr davon ab, an diesem Wochenende das Haus zu verlassen. Die Lage hat sich gegenüber gestern abend noch verschlechtert. Die Morgenzeitung bringt die Nachricht, an einer anderen Stelle säßen siebzehntausend Menschen fest und der Zivilschutz sei ausgerückt, um ihnen mit Nahrungsmitteln und improvisierten Unterkünften beizustehen, da bei vielen Wagen das Benzin ausgegangen ist und die Heizungen nicht mehr laufen.

Im Hotel erklären sie mir, wenn ich denn unbedingt fahren müsse, wenn es für mich eine Frage von Leben oder Tod sei, könne ich einen Umweg über eine kleine Seitenstraße nehmen, der die Fahrzeit allerdings um zwei Stunden verlängern würde. Der Straßenzustand sei weiterhin prekär.

Allein aus einem Gefühl heraus beschließe ich, die Reise fortzusetzen: Etwas treibt mich hinaus auf den rutschigen Asphalt, zu den kilometerlangen Staus.

Vielleicht ist es der Name der Stadt: Vitória, das bedeutet Sieg. Vielleicht ist es auch der Gedanke, daß ich, vom Komfort verwöhnt, die Fähigkeit verloren haben könnte, in Krisensituationen zu improvisieren. Vielleicht ist der Grund, daß ich trotz allem hinfahre, auch die Begeisterung der Vitórianer, die die mittelalterliche Kathedrale restaurieren wollen und, um ihr Projekt bekannt zu machen, einige Schriftsteller zu Vorträgen eingeladen haben. Oder vielleicht ist der Grund das, was die Eroberer Amerikas einst gesagt hatten: Seefahrt tut not, Leben tut nicht not. Oder vielleicht auch, weil für mich Unterwegssein alles ist.

Ich fahre los. Die Reise dauert lange und ist beschwerlich.

Ich komme in VitoriaGasteiz an, wo mich Menschen erwarten, die noch erschöpfter sind als ich. Seit dreißig Jahren habe es nicht mehr so geschneit, sagen sie und danken mir dafür, daß ich den mühseligen Weg auf mich genommen habe. Doch alles hilft nichts, das offizielle Programm müsse durchgezogen werden, und dazu gehöre auch ein Besuch der Kathedrale Santa Maria.

Eine junge Frau mit einem besonderen Leuchten in den Augen beginnt, mir deren Geschichte zu erzählen. Anfangs habe hier nur die Stadtmauer gestanden. Dann wurde an der Mauer eine Kapelle errichtet und Jahrzehnte später zu einer Kirche umgebaut. Noch ein Jahrhundert, und aus der Kirche war eine gotische Kathedrale geworden. Die Kathedrale hat ruhmreiche Zeiten erlebt, dann gab es Probleme in der Bausubstanz, das Gotteshaus wurde eine Zeitlang aufgegeben, dann mehreren Umbauten unterzogen, die das Gebäude verunstalteten. Doch jede Generation glaubte, das Problem lösen zu können, und überarbeitete die ursprünglichen Baupläne. So wurde jahrhundertelang hier eine Wand errichtet, dort eine Strebe eingerissen; an einer Seite wurden Stützen eingezogen, Fenster geöffnet oder zugemauert.

Und die Kathedrale hielt alldem stand.

Ich gehe durch ihr Gerippe, sehe die jüngsten Umbauten: Diesmal, versichern die Architekten, hätten sie die beste Lösung gefunden. Überall sind Stützgerüste aus Metall eingezogen, wieder einmal werden großartige Theorien über künftige Verbesserungen entwickelt und kritische Bemerkungen zu früheren Veränderungen vorgebracht.

Im Mittelschiff wird mir plötzlich etwas Wichtiges bewußt: Ich gleiche dieser Kathedrale, wir alle gleichen ihr.

Wir wachsen, verändern unsere Form, treffen manchmal auf Schwächen, die korrigiert werden müssen, und wählen nicht immer die beste Lösung, aber wir machen weiter, versuchen, aufrecht, korrekt zu sein, nicht um der Wände oder Türen oder Fenster willen, sondern wegen des leeren Raums im Innern, in dem wir anbeten und verehren, was uns teuer und wichtig ist.

Ja, wir sind wie eine Kathedrale, da gibt es keinen Zweifel. Aber was ist im leeren Raum meiner inneren Kathedrale?

Esther, der Zahir.

Sie hat alles angefüllt. Sie ist der einzige Grund, weshalb ich am Leben bin. Ich blicke um mich, bereite mich innerlich auf den Vortrag vor und begreife, warum ich mich dem Schnee, den Staus, den vereisten Straßen ausgesetzt habe: um mich daran zu erinnern, daß ich mich jeden Tag wieder neu bauen muß, und um erstmals in meinem Leben zu akzeptieren, daß ich einen Menschen mehr liebe als mich selbst.

Den Rückweg nach Paris − bei sehr viel besseren Witterungsverhältnissen − lege ich wie in einer Art Trance zurück: Ich denke an nichts, achte nur auf den Verkehr. Als ich zu Hause ankomme, bitte ich die Hausangestellte, niemanden hereinzulassen und in den nächsten Tagen hier zu übernachten und auch für mich zu kochen. Ich zertrete den kleinen Apparat, der mir erlaubt, ins Internet zu gehen. Reiße das Telefonkabel aus der Wand. Stecke mein Handy in ein Päckchen, das ich meinem Verleger schicke mit der Bitte, es mir erst wiederzugeben, wenn ich es persönlich abholen komme.

Eine Woche lang gehe ich morgens am Seineufer spazieren und schließe mich dann im Arbeitszimmer ein. Als würde ich die Stimme eines Engels hören, schreibe ich ein Buch oder vielmehr einen langen Brief an die Frau meiner Träume, an die Frau, die ich liebe und immer lieben werde.

Wer weiß, vielleicht gelangt dieses Buch ja in ihre Hände, und selbst wenn nicht, habe ich dadurch zumindest zu meinem inneren Frieden gefunden. Ich kämpfe nicht mehr gegen meinen verletzten Stolz an, suche Esther nicht mehr in allen Ecken, in allen Bars, Kinos, bei allen Abendessen, in Marie, in jeder Zeitungsmeldung.

Im Gegenteil, ich bin zufrieden damit, daß es den Zahir gibt − er hat mir gezeigt, daß ich zu einer Liebe fähig bin, die ich nicht kannte, und das empfinde ich als Gnade.

Ich nehme den Zahir an, ich werde zulassen, daß er mich entweder zur Heiligkeit oder in den Wahnsinn führt.

Das Buch mit dem Titel ›Zerreißen hat seine Zeit, Zunähen hat seine Zeit‹, das einen Vers aus dem Prediger Salomo aufgreift, wurde Ende April veröffentlicht. In der zweiten Maiwoche stand es bereits auf den Beststellerlisten.

Die Literaturbeilagen, die noch nie freundlich zu mir gewesen waren, attackierten mich diesmal doppelt hart. Die markantesten Sätze habe ich ausgeschnitten und in mein Pressedossier geklebt. Im Grunde war der Tenor bei allen Büchern immer der gleiche:

»... wieder einmal will uns der Autor in unseren bewegten Zeiten mit einer Geschichte über die Liebe zur Realitätsflucht verleiten.« (Als könnte der Mensch ohne Liebe leben.)

»... kurze Sätze, simpler Stil.« (Als wären lange Sätze automatisch tiefsinnig.)

»... Der Autor hat den Schlüssel zum Erfolg entdeckt − Marketing.« (Als käme ich aus einem Land, in dem viel gelesen wird, und als hätte ich ein Vermögen in die Werbung meines ersten Buchs investiert.)

»... obwohl er weiterhin gut verkauft, beweist das nur, daß die Menschen nicht bereit sind, sich ihrem Unglück zu stellen.« (Haben die eine Ahnung, was es bedeutet, bereit zu sein!)

Einige Kritiker hingegen gingen noch weiter und verstiegen sich zu der Behauptung, ich nutze den Wirbel in der Presse um das Verschwinden meiner Frau aus, um noch mehr Geld zu scheffeln. Doch auch diesmal erreichte die negative Kritik nur, daß mein Buch noch mehr Verbreitung fand: Meine treuen Leser kauften es sowieso, und diejenigen, die meinen Fall bereits vergessen hatten, erinnerten sich wieder daran und kauften das Buch, weil sie auf meine Version von Esthers Verschwinden gespannt waren. (Da das Buch nicht davon handelte, sondern eine Hymne an die Liebe war, würden sie bestimmt enttäuscht sein und den Kritikern zustimmen.) Die Rechte wurden sofort in alle Länder verkauft.

Marie, der ich den Text gab, bevor ich ihn an den Verlag schickte, reagierte so, wie ich es erwartet hatte: Anstatt neidisch zu sein oder zu sagen, ich solle meine Seele nicht derart entblößen, ermutigte sie mich weiterzumachen und freute sich über meinen Erfolg.