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In jener Phase ihres Lebens las sie die Lehren eines praktisch in Vergessenheit geratenen Mystikers, den sie in unseren Unterhaltungen oft zitierte.

»Wenn wir gelobt werden, sollten wir auf unser Verhalten achten.«

»Die Kritik hat mich nie gelobt.«

»Ich rede von den Lesern: Du hast mehr Briefe bekommen als je zuvor, am Ende wirst du noch glauben, du seiest besser, als du denkst. Womöglich läßt du dich noch von einem falschen Gefühl der Sicherheit beherrschen, das sehr gefährlich sein kann.«

»Ehrlich gesagt, glaube ich tatsächlich, daß ich besser bin, als ich dachte, und das hat mehr mit meinem Besuch in der Kathedrale zu tun als mit den Leserbriefen. Ich habe die Liebe entdeckt, so unwahrscheinlich das auch klingen mag.«

»Das freut mich. Was mir übrigens an dem Buch am besten gefällt, ist, daß du deiner Exfrau nie die Schuld zuweist. Und dir selber auch nicht.«

»Ich habe gelernt, meine Zeit nicht mit so etwas zu vergeuden.«

»Das ist sehr gut, denn das Universum übernimmt es, unsere Fehler zu korrigieren.«

»Willst du damit sagen, Esthers Verschwinden sei eine Art ›Korrektur‹?«

»Ich glaube nicht an die heilende Kraft des Leidens und des Unglücks. Leid und Unglück gehören zum Leben, aber sie sollten nicht als Strafe gesehen werden. Meistens zeigt uns das Universum, daß wir auf dem falschen Weg sind, indem es uns wegnimmt, was uns am wichtigsten ist: unsere Freunde. Und das ist auch dir passiert, wenn ich mich nicht irre.«

»Ich habe kürzlich etwas herausgefunden: Die wahren Freunde sind diejenigen, die bei uns sind, wenn etwas Gutes geschieht. Sie drücken uns die Daumen, freuen sich über unsere Siege. Die falschen Freunde sind diejenigen, die nur in schwierigen Zeiten auftauchen, mit diesem solidarischtraurigen Gesicht, weil ihnen unser Leid in ihrem eigenen Elend als Trost dient. Während meiner Krise im vergangenen Jahr sind verschiedene Leute, die ich nie zuvor gesehen habe, bei mir erschienen, um mich zu ›trösten‹. Ich hasse das.«

»Ich bin aber doch auch eine von diesen Personen.«

»Und ich bin dankbar, daß du in mein Leben getreten bist, Marie.«

»Danke mir nicht zu früh, unsere Beziehung ist noch nicht stark genug. Allerdings überlege ich manchmal, ob ich nicht nach Paris ziehen oder dich bitten soll, nach Mailand zu übersiedeln: In deinem wie in meinem Fall wäre das für die Arbeit unerheblich. Du arbeitest immer zu Hause und ich in ständig wechselnden Städten. Möchtest du das Thema wechseln, oder sollen wir weiter über diese Idee reden?«

»Ich möchte das Thema wechseln.«

»Also gut. Dein Buch ist sehr mutig. Mich überrascht allerdings, daß du den Jungen niemals erwähnst.«

»Er interessiert mich nicht.«

»Aber natürlich interessiert er dich. Natürlich fragst du dich immer wieder: Warum hat sie sich für ihn entschieden?«

»Das frage ich mich nicht.«

»Du lügst. Ich zum Beispiel würde gern wissen, warum mein Geliebter sich nicht von seiner langweiligen Frau scheiden läßt, die immer lächelt, sich unablässig um den Haushalt, die Kinder, die Rechnungen kümmert. Wenn ich mich so etwas frage, dann fragst du dich das auch.«

»Willst du von mir hören, daß ich ihn hasse, weil er mir die Frau weggenommen hat?«

»Nein. Ich möchte hören, daß du ihm verziehen hast.«

»Das kann ich nicht.«

»Zugegeben, es ist sehr schwierig. Aber du hast keine andere Wahclass="underline" Denn wenn du ihm nicht verzeihst, wirst du ewig an das Leid denken, das er dir zugefügt hat, und der Schmerz hört nie auf.

Ich sage ja nicht, daß du ihn lieben sollst. Ich sage auch nicht, daß du zu ihm gehen oder in ihm einen Engel sehen sollst. Wie heißt er noch? Irgend etwas Russisches, nicht wahr?«

»Sein Name interessiert mich nicht.«

»Siehst du? Nicht einmal seinen Namen möchtest du aussprechen. Kommt da etwa Aberglaube mit ins Spiel?«

»Also gut. Mikhail. Damit ist der Name heraus.«

»Die Energie des Hasses wird dich nirgendwohin führen.

Aber der Energie der Vergebung, die sich durch die Liebe offenbart, wird es gelingen, dein Leben positiv zu verändern.«

»Jetzt redest du wie eine tibetische Meisterin. Du erzählst etwas von Dingen, die sich in der Theorie schön anhören, aber in der Praxis nicht umzusetzen sind. Vergiß nicht, daß ich häufig verletzt wurde.«

»Du trägst noch immer den kleinen Jungen in dir, der weinte, wenn seine Eltern es nicht sahen, der in der Schule der körperlich Schwächste war. Du trägst noch die Spuren des mageren Jungen in dir, der keine Freundin fand und in Sport eine Niete war. Du trägst noch immer die Narben der Ungerechtigkeiten, die dir in deinem Leben zugefügt wurden. Nur, was hast du davon?«

»Wer hat dir gesagt, daß es so war?«

»Ich weiß es. Ich lese es in deinen Augen. Doch was hast du davon? Nichts als Selbstmitleid, weil du dich als ewig Unterlegenen, als Opfer fühlst. Oder du verfällst ins Gegenteil, führst dich auf wie ein Rächer, bereit, es denjenigen, die dich verletzt haben, doppelt heimzuzahlen. Findest du nicht, daß du deine Zeit vergeudest?«

»Ich finde, daß dies menschlich ist.«

»Es ist zweifellos menschlich. Aber es ist weder intelligent noch vernünftig. Du solltest deine Zeit hier auf Erden nutzen, im Bewußtsein: Gott hat mir immer vergeben, darum will auch ich vergeben.«

Als ich auf die Menge schaute, die sich in einem dieser

›MegaStores‹ auf den ChampsElysees zu einer Signierstunde versammelt hatte, dachte ich: Wie viele dieser Menschen haben wohl das gleiche erlebt wie ich mit meiner Frau? − Sehr wenige. Vielleicht ein oder zwei. Aber dennoch würde sich die Mehrzahl mit dem identifizieren, was im Buch stand.

Schreiben ist die einsamste Tätigkeit der Welt. Alle zwei Jahre setze ich mich vor den Computer, schaue auf das unbekannte Meer meiner Seele, sehe, daß es dort ein paar Insein gibt − Gedanken, die soweit gereift sind, daß sie erforscht werden können. Dann besteige ich mein Boot namens Sprache und halte Kurs auf die nächstgelegene Insel.

Unterwegs gelange ich in Strömungen, Winde, Stürme, aber ich rudere immer weiter, bis zur Erschöpfung, bis ich merke, daß ich von meinem Kurs abgekommen bin und daß die Insel, zu der ich unterwegs war, am Horizont nicht mehr zu sehen ist.

Aber zurück kann ich nicht, ich muß irgendwie weiterrudern − in diesem Augenblick gehen mir grauenhafte Szenen durch den Kopf, zum Beispiel die, daß ich den Rest meines Lebens damit zubringen könnte, über frühere Erfolge zu sprechen, oder daß ich junge Schriftsteller erbittert kritisiere, nur weil ich selber nicht mehr den Mut aufbringe, eigene neue Bücher zu publizieren. War es nicht mein Traum, Schriftsteller zu werden? Also muß ich weiterhin Absätze, Kapitel schaffen, bis an mein Lebensende schreiben, ohne mich vom Erfolg, von Niederlagen, von Versagensängsten lähmen zu lassen. Denn was hätte mein Leben sonst für einen Sinn?

Eine Mühle im Süden Frankreichs kaufen und gärtnern?

Vorträge halten, weil reden einfacher ist als schreiben? Mich kalkuliertmysteriös aus der Welt zurückziehen, zur lebenden Legende werden und auf viele Freuden verzichten?

Diese Schreckensvisionen geben mir Kraft und auch Mut, die ich in mir nicht erwartet hätte: Sie helfen mir, mich auf die unbekannte Seite meiner Seele zu wagen. Ich lasse mich mit der Strömung treiben und gehe am Ende mit meinem Boot an der Insel, zu der es mich hingeführt hat, vor Anker. Ich verbringe Tage und Nächte damit, zu beschreiben, was ich sehe, frage mich, warum ich das tue, sage mir ununterbrochen, daß es die Mühe nicht lohnt, daß ich niemandem etwas beweisen muß, da ich bereits erreicht habe, was ich wollte − sogar mehr, als ich mir erträumt hatte.