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Ich frage ihn, was ich jetzt tun müsse. Er gibt mir seine Visitenkarte, bittet mich, ihn sofort zu unterrichten, sobald ich Neues wüßte − eine Szene, wie ich sie aus Filmen kenne.

Mich überzeugt sie nicht, die Inspektoren wissen immer mehr, als sie sagen.

Er fragt mich, ob ich dem Mann, mit dem Esther zuletzt gesehen worden sei, auch einmal begegnet bin. Meine Antwort ist, daß ich zwar seinen Decknamen kenne, ihm aber persönlich nie begegnet sei.

Er fragt, ob es zu Hause Probleme gebe. Ich sage ihm, wir lebten seit zehn Jahren zusammen und hätten die ganz normalen Probleme eines jeden Ehepaares − weder mehr noch weniger.

Er fragt vorsichtig, ob wir kürzlich über eine Scheidung gesprochen hätten oder ob meine Frau sich mit dem Gedanken trage, sich von mir zu trennen. Ich antworte ihm, dies habe nie zur Debatte gestanden, obwohl wir uns − wie schon gesagt − »wie alle Ehepaare« hin und wieder stritten.

Häufig oder nur manchmal?

Hin und wieder, betone ich.

Er fragt noch vorsichtiger, ob sie wegen meiner Affäre mit ihrer Freundin Verdacht geschöpft habe. Ich sage, es sei das erste und das letzte Mal gewesen, daß wir miteinander geschlafen hätten. Von einer Affäre könne keine Rede sein, es sei in Wahrheit nur zufällig passiert. Es sei ein langweiliger Tag gewesen, nach dem Mittagessen habe es nichts zu tun gegeben. Das Spiel der Verführung trage bekanntlich dazu bei, daß man sich lebendig fühlt, und aus diesem Grunde seien wir im Bett gelandet.

»Sie schlafen mit jemandem − nur einfach so, aus Langeweile?«

Ich überlege mir, ob ich ihm sagen soll, daß diese Art von Fragen nicht zu den Ermittlungen gehört. Aber ich brauche sein Vertrauen, vielleicht kann er mir später noch einmal nützlich sein, schließlich gibt es ja diese unsichtbare Institution namens ›Gefälligkeitsbank‹, die mir immer sehr nützlich war.

»Manchmal ergibt es sich eben. Es passiert gerade nichts Interessantes, die Frau ist auf der Suche nach Emotionen, ich bin auf der Suche nach einem Abenteuer, und schon ist es geschehen. Am nächsten Tag tun beide so, als sei nichts gewesen, und das Leben geht weiter.«

Er bedankt sich, streckt mir seine Hand hin. Seine Welt sehe nicht so aus, sagt er. Langeweile gebe es natürlich auch, Überdruß und sogar den Wunsch, mit jemandem ins Bett zu gehen − aber alles sei sehr viel kontrollierter, und keiner mache, was er denke oder möchte. »Aber vielleicht ist das bei Künstlern ja anders.«

Ich entgegne, seine Welt kenne ich wohl, wolle aber jetzt nicht auf unsere unterschiedlichen Meinungen zur Gesellschaft und den Menschen eingehen. Ich schweige, warte auf seinen nächsten Schritt.

»Da wir gerade von Abenteuern und der Freiheit reden, zu tun, was man gern möchte: Sie können jetzt gehen.« Der Inspektor ist etwas enttäuscht, weil der Schriftsteller sich weigert, mit dem Polizisten zu reden. »Jetzt, wo ich Sie persönlich kenne, werde ich Ihre Bücher lesen. Ich habe zwar gesagt, daß sie mir nicht gefallen, aber um ehrlich zu sein: Ich habe sie noch gar nicht gelesen.«

Diesen Satz höre ich nicht zum ersten Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Wenigstens hat diese Episode mir einen weiteren Leser verschafft. Ich verabschiede mich und gehe.

Ich bin frei. Ich bin aus dem Gefängnis entlassen, meine Frau ist unter mysteriösen Umständen verschwunden, ich habe keine festen Arbeitszeiten, keine Probleme, Menschen kennenzulernen, bin reich, berühmt, und falls mich Esther tatsächlich verlassen haben sollte, werde ich schnell jemanden finden, der sie ersetzt. Ich bin frei und unabhängig.

Aber was ist Freiheit?

Ein Großteil meines Lebens war ich Sklave, also sollte ich die Bedeutung dieses Wortes kennen. Von Kindheit an habe ich um meine Freiheit gekämpft, sie war mein kostbarster Schatz. Ich habe gegen meine Eltern gekämpft, die wollten, daß ich Ingenieur werde statt Schriftsteller. Ich habe gegen meine Schulkameraden gekämpft, die mich von Anfang an zum Opfer ihrer perversen Spaße erkoren, und erst nachdem viel Blut aus meiner und ihren Nasen geflossen war, erst nach vielen Abenden, an denen ich meine Wunden vor meiner Mutter verbergen mußte (ich selbst mußte meine Probleme lösen, nicht sie), war es mir gelungen zu zeigen, daß ich imstande war, Prügel einzustecken, ohne zu weinen.

Ich habe gekämpft, um eine Anstellung zu finden, die mich ernährte. Ich habe als Botenjunge in einer Eisenwarenhandlung gearbeitet, um mich von der berühmten Familienerpressung zu befreien − »wir geben dir Geld, aber du mußt tun, was wir dir sagen.«

Ich habe − wenn auch ohne Erfolg − um das Mädchen gekämpft, das ich als Heranwachsender liebte und das mich ebenfalls liebte. Am Ende hat es mich verlassen, weil seine Eltern es davon überzeugten, daß ich keine Zukunft hatte.

In meiner nächsten Anstellung hatte ich gegen das feindselige Klima unter Journalisten zu kämpfen: Mein erster Chef ließ mich anfangs drei Stunden lang warten und beachtete mich erst, als ich anfing, aus dem Buch, das er gerade las, einzelne Seiten herauszureißen. Erst dann schaute er überrascht auf und sah sich einem Menschen mit Durchsetzungsvermögen und der Fähigkeit gegenüber, sich dem Feind zu stellen − wesentliche Eigenschaften eines guten Reporters. Ich habe für das Ideal des Sozialismus gekämpft, war im Gefängnis, bin wieder herausgekommen, habe weitergekämpft. Ich habe mich als Held der Arbeiterklasse gefühlt, bis ich die Beatles hörte und fand, daß es sehr viel lustiger war, Rock zu mögen als Marx. Ich habe um die Liebe meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau gekämpft. Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, mich von meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau zu trennen, weil die Liebe nicht standgehalten hatte und ich weitergehen mußte, bis ich den Menschen traf, der in diese Welt gestellt worden war, um mir zu begegnen − und es war keine von den dreien gewesen.

Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, die Anstellung bei der Zeitung aufzugeben und das Abenteuer einzugehen, ein Buch zu schreiben. Auch wenn ich wußte, daß es in meinem Land niemanden gab, der von der Literatur leben konnte. Nach einem Jahr habe ich aufgegeben, nach eintausend Seiten, die absolut genial zu sein schienen, weil nicht einmal ich sie verstand.

Während ich kämpfte, hörte ich Menschen sich für die Freiheit stark machen, doch je heftiger sie dieses einzige Recht verteidigten, um so deutlicher erwiesen sie sich als Sklaven der Wünsche ihrer Eltern, einer vorgeblich auf Lebenszeit geschlossenen Ehe, als Sklaven von Waagen, Diäten, von Projekten (die sie dann doch aufgeben), von Lieben, zu denen sie nicht »nein« sagen konnten und auch nicht

»es ist vorbei«. Als Sklaven von Wochenenden, an denen sie gezwungen waren zu essen, was sie nicht mochten. Als Sklaven des Scheins von Luxus, des Scheins des Scheins von Luxus. Als Sklaven eines Lebens, das sie nicht selbst gewählt hatten, sondern weil jemand sie davon überzeugt hatte, daß es das beste für sie war. Und so lebten sie ihre immer gleichen Tage und Nächte, in denen ›Abenteuer‹ nur ein Wort aus einem Buch war oder etwas im Fernsehen. Und wenn sich irgendeine Tür öffnete, dann sagten sie stets: »Das interessiert mich nicht, ich habe keine Lust.«

Wie konnten sie wissen, ob sie Lust hatten oder nicht, wenn sie es nie ausprobiert hatten? Aber es war müßig, zu fragen. In Wirklichkeit hatten sie Angst vor jeder Art von Veränderung, die ihre gewohnte Welt erschüttern könnte.

Der Inspektor sagt, ich sei frei. Frei bin ich jetzt, aber innerlich frei war ich auch im Gefängnis gewesen. Freiheit war immer mein höchstes Gut. Selbstverständlich hat mein Freiheitsdrang auch dazu geführt, daß ich Weine getrunken habe, die mir nicht schmeckten, Dinge getan, die ich besser nicht getan hätte und nie wieder tun werde. Daß ich Narben an Körper und Seele davongetragen habe. Dazu, andere zu verletzen, die ich nachträglich um Verzeihung gebeten habe, damals, als ich noch dachte, alles tun zu können, außer einen anderen Menschen dazu zu zwingen, mir in meiner Verrücktheit, meinem Lebenshunger zu folgen. Ich bereue die Augenblicke, in denen ich gelitten habe, nicht. Ich trage meine Narben wie Orden. Ich weiß, daß die Freiheit einen hohen Preis hat, einen ebenso hohen Preis wie die Versklavung; mit dem einzigen Unterschied, daß man den Preis der Freiheit freudig und mit einem Lächeln zahlt, selbst wenn man unter Tränen lächelt.