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Sie können bis zur Hälfte wachsen, aber Sie werden nicht so viel wachsen, wie es Ihnen vorschwebt, sondern auf halber Strecke steckenbleiben. Sie sind halb zufrieden und halb traurig, sind weder richtig frustriert noch ein Mensch, der sich ganz verwirklicht hat. Sie sind weder heiß noch kalt, Sie sind lauwarm und, wie es irgendwo in der Bibel heißt,

›weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde‹.«

Der Verleger macht viele Einzahlungen − Kontakte − auf mein Konto bei der ›Gefälligkeitsbank‹. Ich lerne, ich leide, die Bücher werden ins Französische übersetzt, und wie in Frankreich üblich, wird Fremdes wohlwollend aufgenommen. Mehr als das: Der Ausländer ist ein Erfolg! Zehn Jahre später habe ich eine große Wohnung mit Blick auf die Seine, werde von meinen Lesern geliebt, von der Kritik gehaßt (die mich liebte, bis ich meine ersten hunderttausend Exemplare verkauft hatte, von da an war ich für sie kein ›unverstandenes Genie‹ mehr). Ich zahle meine Gefälligkeitsschulden immer pünktlich zurück, und bald werde ich selber Gefälligkeiten verleihen − in Form von Kontakten. Mein Einfluß wächst. Ich lerne zu bitten und lerne zu tun, worum mich die anderen bitten.

Esther erhält eine Arbeitserlaubnis als Journalistin. Von den normalen Konflikten in einer Ehe einmal abgesehen bin ich zufrieden. Ich begreife zum ersten Mal, daß all meine Frustrationen mit den früheren Lieben und Ehen nichts mit meinen damaligen Frauen zu tun hatten, sondern mit meiner eigenen Bitterkeit. Esther war die einzige, die etwas ganz Einfaches begriffen hatte: Um ihr zu begegnen, mußte ich mich erst einmal selber finden. Wir sind seit acht Jahren zusammen, sie ist für mich die Frau meines Lebens, und obwohl ich mich hin und wieder (oder besser gesagt, ziemlich häufig) in Frauen verliebe, die meinen Weg kreuzen, denke ich niemals an Scheidung. Nie frage ich sie, ob sie von meinen Affären weiß, und sie fragt von sich aus nie.

Daher bin ich vollkommen überrascht, als sie mir eines Abends nach einem Kinobesuch eröffnet, sie habe die Zeitschrift, für die sie arbeitet, gebeten, eine Reportage über einen Bürgerkrieg in Afrika machen zu dürfen.

»Was hast du da gesagt?«

»Ich möchte Kriegsberichterstatterin werden.«

»Du bist verrückt, das brauchst du doch nicht. Du machst, was du möchtest. Verdienst gut, obwohl du dieses Geld nicht zum Leben brauchst. Du hast alle notwendigen Kontakte. Hast Talent und wirst von deinen Kollegen geachtet.«

»Dann sagen wir es eben anders: Ich muß allein sein.«

»Meinetwegen?«

»Wir haben gemeinsam unser Leben aufgebaut. Ich liebe meinen Mann, und er liebt mich, obwohl er nicht der treueste Ehemann ist.«

»Das ist das erste Mal, daß du das erwähnst.«

»Weil es für mich keine Bedeutung hat. Was ist schon Treue? Das Gefühl, daß ich einen Körper und eine Seele besitze, die nicht meine sind? Und glaubst du etwa, ich wäre in all den Jahren, die wir zusammen sind, nicht mit anderen Männern im Bett gewesen?

»Das interessiert mich nicht. Ich möchte es nicht wissen.«

»Eben. Ich auch nicht.«

»Also, was ist das denn für eine Geschichte, die mit dem Krieg an einem gottverlassenen Ort?«

»Ich brauche es. Ich habe bereits gesagt, daß ich es brauche.«

»Fehlt dir etwas?«

»Ich habe alles, was eine Frau sich wünschen kann.«

»Was stimmt in deinem Leben nicht?«

»Genau dies. Ich habe alles, aber ich bin unglücklich. Und ich bin nicht die einzige: In all den Jahren habe ich alle möglichen Menschen kennengelernt oder interviewt, reiche, arme, mächtige, wohlhabende. In allen Augen, in die ich geblickt habe, las ich unendliche Bitterkeit. Eine Traurigkeit, die nicht immer akzeptiert, aber stets unterschwellig vorhanden war, unabhängig davon, was sie mir sagten. − Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ich höre zu. Ich denke nach. Ist denn deiner Meinung nach niemand glücklich?«

»Einige Menschen scheinen glücklich zu sein: Sie denken einfach nicht darüber nach. Andere schmieden Pläne: Ich werde einen Mann, ein Haus, zwei Kinder, ein Landhaus, ein Auto haben. Während sie damit beschäftigt sind, verhalten sie sich wie der Stier, der den Torero sucht: Sie reagieren instinktiv, bewegen sich vorwärts, ohne genau zu wissen, wo sich das Ziel befindet. Sie bekommen ihren Wagen, manchmal sogar einen Ferrari, glauben, darin liege der Sinn des Lebens, und stellen diesen niemals in Frage. Und dennoch liegt in ihren Blicken eine Traurigkeit, von der sie nicht einmal selber wissen. − Bist du glücklich?«

»Ich weiß es nicht«

»Ich weiß nicht, ob alle Menschen unglücklich sind. Ich weiß, daß sie immer beschäftigt sind: Sie machen Überstunden, kümmern sich um ihre Kinder, den Ehegatten, die Karriere, ein Diplom, darum, was sie morgen tun werden, was noch eingekauft werden muß, was vonnöten ist, damit sie sich nicht minderwertig fühlen, und so weiter. Tatsächlich haben mir nur wenige Menschen gesagt: ›Ich bin unglücklich.‹ Die meisten sagen: ›Es geht mir ausgezeichnet, ich habe alles erreicht, was ich wollte.‹ Und wenn ich nachhake: ›Haben Sie schon einmal innegehalten und sich gefragt, ob das alles ist im Leben?‹, kommt als Antwort: ›Ja − alles.‹ Ich lasse nicht locker: ›Dann ist also der Sinn des Lebens Arbeit, Familie, Kinder, die aufwachsen und aus dem Haus gehen, Frau und Mann, die immer mehr zu Freunden als zu wirklichen Liebenden werden. Und die Arbeit wird eines Tages aufhören. Was werden Sie tun, wenn es soweit ist?‹«

»Es gibt keine Antwort. Sie wechseln das Thema.«

»Tatsächlich antworten sie: ›Wenn meine Kinder erwachsen sind, wenn mein Mann − oder meine Frau − mehr Freund als Geliebter oder Geliebte ist, wenn ich in Pension gehe, habe ich endlich Zeit, das zu tun, was ich schon immer tun wollte: reisen. ‹

Meine Frage: ›Aber Sie sagten doch, Sie seien jetzt glücklich? Tun Sie nicht schon heute, was Sie immer tun wollten ?‹

Doch, schon, kommt es zurück, nur hätten sie so viel zu tun, und dann wechseln sie das Thema.

Wenn ich nicht lockerlasse, finden sie am Ende immer heraus, daß ihnen etwas fehlt. Der Unternehmer träumt weiterhin von dem großen Geschäft, das er noch nicht getätigt hat; die Hausfrau würde gern unabhängiger sein oder mehr Geld haben, der verliebte junge Mann hat Angst davor, seine Freundin zu verlieren; der Rentner fragt sich, ob er seinen ›Beruf‹ selbst gewählt hat oder jemand anders an seiner Stelle; der Zahnarzt fragt sich, ob er lieber Sänger, der Sänger, ob er lieber Politiker, der Politiker, ob er lieber Schriftsteller, der Schriftsteller, ob er lieber Bauer geworden wäre. Und selbst wenn ich jemandem begegne, der das tut, was er selber gewählt hat, ist seine Seele in Aufruhr. Er hat seinen inneren Frieden nicht gefunden. Wo wir gerade dabei sind. Ich möchte auch bei dir noch einmal nachfragen: Bist du glücklich?«

»Nein. Ich habe die Frau, die ich liebe, die Karriere, von der ich immer geträumt habe. Eine Freiheit, um die mich alle Freunde beneiden. Reisen, Ehrungen, Komplimente.

Aber da gibt es etwas...«

»Was?«

»Ich glaube, wenn ich aufhöre, verliert das Leben seinen Sinn.«

»Du kannst dich nicht entspannen, kannst Paris nicht genießen, kannst nicht einfach meine Hand nehmen und sagen: Ich habe alles erreicht, was ich wollte, laß uns nun das Leben nutzen, das noch vor uns liegt.«

»Ich kann Paris durchaus genießen, kann deine Hand halten, aber diesen Satz bringe ich nicht über die Lippen.«

»Ich möchte wetten, daß in dieser Straße, durch die wir gerade gehen, alle das gleiche fühlen. Die elegante Dame, die gerade vorbeigekommen ist, verbringt ihre Tage damit, die Zeit anhalten und die Waage kontrollieren zu wollen, weil sie glaubt, davon hinge die Liebe ab. Schau auf die andere Seite der Straße: ein Ehepaar mit zwei Kindern. Sie erleben Augenblicke intensiven Glücks, wenn sie mit ihren Kindern unterwegs sind, aber gleichzeitig quält sie ihr Unterbewußtsein: Sie fürchten, daß sie ihre Arbeit verlieren könnten oder krank werden und die Versicherung würde nicht alles zahlen, oder eines ihrer Kinder könnte überfahren werden. Indem sie darauf aus sind, sich zu zerstreuen, suchen sie auch eine Möglichkeit, Tragödien fernzuhalten, sich vor der Welt zu schützen.«