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»Und der Bettler an der Ecke?«

»Bei dem weiß ich es nicht: Ich habe nie mit einem geredet. Er ist das Bild des Unglücks, aber sein Blick scheint etwas zu verbergen − wie die Blicke aller Bettler. Seine Traurigkeit ist so offensichtlich, daß ich sie nicht zu glauben vermag.«

»Und was fehlt?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich schaue mir die Klatschzeitschriften mit all den Prominenten darin an: Alle strahlen, alle sind zufrieden. Aber da ich mit einem Prominenten verheiratet bin, weiß ich, daß der Schein trügt: Alle strahlen und amüsieren sich in dem Augenblick, in dem sie fotografiert werden, aber nachts oder in der Früh sieht alles anders aus. Ihre ständige Sorge ist: ›Was muß ich tun, damit ich weiter in dieser Zeitschrift erscheine? − Wie kann ich überspielen, daß ich nicht genug Geld habe, um dieses luxuriöse Leben zu bezahlen? − Wie soll ich mit meinem Luxus umgehen, wie kann ich ihn vermehren, ihn eindrucksvoller machen als den der anderen? − Die Schauspielerin, mit der ich auf dem Foto lache und feiere, schnappt mir vielleicht morgen schon meine Rolle weg. − Bin ich besser angezogen als sie? − Warum lächeln wir, wo wir uns doch nicht ausstehen können? − Warum gaukeln wir den Lesern dieser Zeitschrift Glück vor, obwohl wir zutiefst unglücklich und Sklaven des Ruhms sind?‹«

»Wir sind keine Sklaven unseres Ruhms.«

»Hör schon auf, alles auf dich zu beziehen, ich rede nicht von uns.«

»Was glaubst du, was los ist?«

»Vor Jahren habe ich mal ein Buch gelesen, das eine interessante Geschichte erzählte. Sie geht davon aus, Hitler hätte den Krieg gewonnen, alle Juden auf der Welt umgebracht und sein Volk davon überzeugt, daß es tatsächlich eine überlegene Rasse gibt. Die Geschichtsbücher werden umgeschrieben, und hundert Jahre später schaffen es seine Nachfolger, die Indios auszurotten. Weitere dreihundert Jahre später gibt es keine Schwarzen mehr. Fünfhundert Jahre braucht es, aber am Ende gelingt es der mächtigen Kriegsmaschinerie, die Asiaten vom Erdboden zu tilgen.

Die Geschichtsbücher berichten von weit zurückliegenden Schlachten gegen Barbaren, aber niemand interessiert sich mehr dafür, weil es vollkommen unwichtig geworden ist.

Dann treffen sich zweitausend Jahre nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten Hans und Fritz auf ein Bier in einer Bar in Tokio, das seit fast fünfhundert Jahren von großen, blauäugigen Menschen bewohnt wird. Irgendwann schaut Hans Fritz an und fragt: ›Ist das, was man uns immer erzählt, eigentlich die Wahrheit, Fritz ?‹

›Was denn?‹ will Fritz wissen.

›Daß die Welt immer so war, wie sie heute ist?‹

›Natürlich war alles immer so, das hat man uns doch beigebracht.‹

›Na klar, ich weiß überhaupt nicht, wie ich auf diese dumme Frage gekommen bin.‹ Und Hans und Fritz trinken ihr Bier aus, reden über andere Dinge und vergessen die Angelegenheit.«

»Du brauchst überhaupt nicht so weit in die Zukunft zu gehen, es genügt ein Blick in die Vergangenheit. Wärest du imstande, eine Guillotine, einen Galgen, einen elektrischen Stuhl anzubeten?«

»Ich weiß, worauf du hinauswillst: Das schlimmste aller Marterwerkzeuge, das Kreuz. Cicero hat es angeblich als eine ›entsetzliche Strafe‹ bezeichnet, die, bevor der Tod eintrat, grauenhaftes Leiden verursachte. Dennoch tragen es heutzutage Menschen auf der Brust, hängen es sich an die Wand, sehen darin ein religiöses Symbol und vergessen darüber, daß es sich dabei um ein Folterinstrument handelt.«

»Oder aber: Zweieinhalb Jahrhunderte mußten vergehen, bis jemand beschloß, den heidnischen Festen ein Ende zu bereiten, die zur Wintersonnenwende gefeiert wurden, dem Datum, an dem sich die Erde am weitesten von der Sonne entfernt hat. Die Apostel und ihre Nachfolger waren zu sehr damit beschäftigt, die Botschaft Jesu zu verbreiten, um sich um das heilige Fest zur Geburt der Sonne am fünfundzwanzigsten Dezember zu kümmern. Bis irgendwann ein Bischof der Meinung war, daß diese Sonnenwendfeiern eine Bedrohung für den christlichen Glauben darstellten. Heute gibt es Christmetten, Krippenspiele, Geschenke, Predigten, Plastikbabys in hölzernen Krippen, und wir sind vollkommen überzeugt davon, daß Christus an diesem Tag geboren wurde!«

»Und wir haben den Weihnachtsbaum. Weißt du, woher der kommt?«

»Keine Ahnung.«

»Der heilige Bonifazius beschloß, ein Ritual zu ›verchristlichen‹, das dem als Kind dargestellten Gott Odin geweiht war. Einmal im Jahr sollten die germanischen Stämme Geschenke um eine Eiche herumlegen, damit die Kinder sie dort fanden. Sie glaubten, damit die heidnische Gottheit froh zu stimmen.«

»Laß uns aber zur Geschichte von Hans und Fritz zurückkehren: Glaubst du, daß die Zivilisation, die Beziehungen zwischen den Menschen, unsere Wünsche, unsere Errungenschaften, daß all dies das Ergebnis nicht richtig wiedergegebener Geschichte ist?«

»Als du über den Jakobsweg geschrieben hast, bist du zu dem gleichen Schluß gekommen, nicht wahr? Früher glaubtest du, allein eine Gruppe Auserwählter könnte die magischen Symbole deuten. Heute weißt du, daß wir alle diese Bedeutung kennen − auch wenn sie in Vergessenheit geraten ist.«

»Sie zu kennen bringt nichts. Die Menschen geben sich alle Mühe, sich nicht daran zu erinnern, damit sie das ungeheure magische Potential, das sie besitzen, nicht annehmen müssen. Denn das hieße, ihre durchorganisierte Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen.«

»Mit anderen Worten, alle haben die Fähigkeit, stimmt’s?«

»Ganz genau. Aber ihnen fehlt der Mut, ihren Träumen und den Zeichen zu folgen. Kommt ihre Traurigkeit etwa daher?«

»Ich weiß es nicht. Und ich sage ja auch nicht, daß ich die ganze Zeit unglücklich bin. Ich amüsiere mich, ich liebe dich, mag meine Arbeit. Aber hin und wieder spüre ich diese tiefe Traurigkeit, die manchmal mit Schuldgefühlen oder Angst einhergeht. Das Gefühl verschwindet, kehrt aber später wieder und verschwindet erneut. Ich stelle mir dieselbe Frage wie unser Hans. Aber da ich keine Antwort darauf habe, vergesse ich sie einfach wieder. Ich könnte losgehen und hungernden Kindern helfen, eine Organisation zum Schutz der Delphine gründen, damit beginnen, die Menschen im Namen Jesu zu retten, etwas zu tun, was mir das Gefühl gibt, nützlich zu sein. Aber ich will es nicht.«

»Und wieso dann diese Idee, daß du in den Krieg ziehen willst?«

»Weil ich glaube, daß im Krieg der Mensch an seine Grenzen stößt. Er kann jederzeit sterben. Wer an seinen Grenzen angelangt ist, handelt anders.«

»Möchtest du eine Antwort auf die Frage finden, die Hans gestellt hat?«

»Ja. Genau das will ich.«

Heute, in dieser schönen Suite im Hotel Bristol, wo der Eiffelturm zu jeder vollen Stunde fünf Minuten lang herüberglitzert, wo die Flasche Wein ungeöffnet bleibt und die Zigaretten zur Neige gehen, frage ich mich: Hat an jenem Tag, als wir aus dem Kino kamen, alles angefangen? Hätte ich Esther meinen Segen geben und sie ziehen lassen sollen, damit sie sich auf die Suche nach der wahren Geschichte machen konnte? Oder hätte ich hart sein und ihr nahelegen müssen, die ganze Sache zu vergessen mit der Begründung, sie sei schließlich meine Frau und ich brauchte ihre Unterstützung?

Unsinn. Damals wußte ich genausogut wie heute, daß mir nichts anderes übrigblieb, als ihren Wunsch zu akzeptieren.