Der Wächter warf Raistlin auf den Boden und band ihm grob mit einem schmutzigen Stück Stoff den Mund zu. Dann begann er, Raistlin zur Treppe hinzuschleifen.
Der Nachtmeister beugte sich auf der anderen Seite über die Brüstung und brüllte einigen seiner Jünger, die außerhalb der Soldatenreihe standen, zu: »Der Kender ist unsichtbar! Sucht ihn und tötet ihn!«
Vier Minotauren rannten dorthin los, wo der Kender gerade noch gestanden hatte, und begannen, herumzusuchen. Sie bückten sich und sahen argwöhnisch in die dünne Luft.
Hicks.
Jedesmal, wenn die Soldaten einen Hickser hörten, fuhren sie herum und rannten zu einem anderen Fleck, wo sie nach etwas stachen, das nicht da war, und miteinander zusammenstießen.
Der Nachtmeister beugte sich zu den Hohen Drei hinunter, die nach Fesz’ Tod nur noch die Hohen Zwei waren, und rief: »Weitermachen! Der Spruch ist fast vollendet!«
Die beiden Minotaurenschamanen, die durch den unerwarteten Tod von Fesz, dem Nachfolger des Nachtmeisters, erschreckt worden waren, hatten aufgehört zu singen. Sie wirkten verstört. Aber der mörderische Ausdruck im Gesicht des Nachtmeisters reichte aus, damit sie wieder ihre unterstützende Rolle für den Spruch übernahmen und die notwendigen Sätze anstimmten.
Der Nachtmeister richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin, der gerade von dem Bewaffneten auf die oberste Stufe gezerrt wurde. Der Oberschamane ergriff den Arm des jungen Magiers und befahl dem Soldaten, sich den Truppen unten anzuschließen. Das tat der Minotaurensoldat mit Freuden.
Raistlin konnte weder Arme noch Beine bewegen. Sein Mund war so fest verschlossen, daß er fast erstickte. Der Nachtmeister brachte ihn an den Rand des Gerüsts und hielt ihn über die Kante.
Von diesem Punkt aus schien das flüssige Feuer in der Vulkangrube überzukochen. Die Hitze versengte dem jungen Magier das Gesicht.
»Merk’s dir gut, Zauberer«, zischte der Nachtmeister, »denn bald wirst du vom Herrn der Vulkane verschlungen.«
Mit einer kräftigen Drehung warf der Nachtmeister Raistlin in eine Ecke des Gerüsts. Der Oberschamane wandte sich wieder dem dicken Zauberbuch zu und machte an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte.
Hicks.
Unten versuchten die Akolythen des Nachtmeisters, dem Hicksen nachzulaufen und den unsichtbaren Kender zu fangen. Wieder und wieder griffen sie ins Leere.
Der Nachtmeister verdrängte die Geräusche. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Erneut begann er, in einem alten Dialekt zu grummeln. Erneut bewegte er die Arme, um den mächtigen Spruch zu sagen.
Raistlin lag zusammengekrümmt in der Ecke der Plattform. Er fühlte sich besiegt. Mit seinen feinen Ohren konnte er das Hicksen unten hören. Der junge Magier wünschte, Tolpan würde Hilfe holen oder flüchten oder wenigstens aufhören zu hicksen.
Der Nachtmeister drehte eine Seite um.
Hicks.
Der Schluckauf kam jetzt seltener – wie Donnern nach dem Durchzug des Sturms. Die Jünger des Nachtmeisters hatten aufgegeben. Sie hatten keine Ahnung, wie sie einen unsichtbaren Kender fangen sollten. Diejenigen, die Tolpan suchen sollten, versammelten sich, weil sie der Anblick fesselte, wie der Nachtmeister auf dem Gerüst seinen großen Zauber wiederaufnahm.
Hicks.
Ein Minotaurensoldat merkte, wie ihm das Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig hielt er den Griff fest und eroberte ihn nach einigem Gezerre mit etwas Unsichtbarem zurück. Der Minotaurus schlug nach dem Etwas, traf jedoch daneben. Einer nach dem anderen schlugen die Soldaten um ihn her zu, verfehlten aber ebenfalls. Dann zog ein Soldat sein Schwert, holte wild aus und schnitt dabei dem Minotaurus direkt neben ihm das Ohr ab.
Hicks.
Das Geräusch erklang dort, wo Dogz auf den Knien wartete. Er war von einem Pulk Minotaurensoldaten umgeben. Die Soldaten gingen dem Hickser nach, konnten jedoch nicht genau feststellen, woher er gekommen war. Ein paar von ihnen verließen Dogz, umklammerten ihre Waffen und schnupperten mißtrauisch. Damit verblieben nur drei Wachen bei dem Verräter.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die Seite um und las mit seiner tiefen Stimme die geheimnisvollen Sätze längst vergangener Zauberei weiter vor.
»Psst, Dogz! Ich bin’s, Tolpan.«
Dogz’ traurige Augen gingen auf, doch er sorgte sich mehr um die Sicherheit des Kenders als um sich selbst. Die drei Wachen standen einige Fuß weiter mit dem Rücken zu ihm, denn sie beobachteten den Nachtmeister. Sie hatten Tolpan nicht gehört.
Mit den Augen gab Dogz zu verstehen, daß er ihn gehört hatte.
»He, ich möchte dir danken, daß du Fesz getötet hast! Das war wirklich eine tolle Sache. Du bist ein wahrer Freund! Natürlich hätte ich das auch schon längst getan, wenn nur – «
Mit den Augen versuchte Dogz, dem Kender mitzuteilen, daß er von hier verschwinden sollte – weit fort von Dogz –, bevor die bewaffneten Wachen sich umdrehten.
»Sag mal, Dogz, du hast nicht zufällig einen kleinen Dolch oder so was-«
»Fesz«, knurrte Dogz so leise wie möglich.
Eine der Wachen hörte ihn. Sie drehte sich um und starrte Dogz argwöhnisch an. Der zuckte mit den Achseln. Die Wache kam herbei und stocherte mit ihrem Speer in der Luft herum, ohne etwas zu treffen.
Hicks.
Die Minotaurenwache rammte Dogz das stumpfe Ende des Speers in den Bauch. Dogz klappte japsend zusammen.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die letzte Seite um. Er ließ sich einen Augenblick Zeit, atmete tief durch und zog ein paar trockene Blätter und andere Dinge aus kleinen Beuteln an seinem Gürtel. Diese magischen Zutaten warf er in den Vulkan.
Ein Teilchennebel erhob sich aus dem Krater, breitete sich aus und erfüllte mit seinem orangeroten Licht die Luft. Der Nebel war heiß und trocken.
»Die Jalopwurz«, knurrte der Nachtmeister und nickte Raistlin zu, »und der Rest der übrigen Ingredienzien, die man für den Spruch braucht.«
Raistlin, der an einem der Eckpfosten lehnte, starrte teilnahmslos geradeaus. Sobald der Nachtmeister sich wieder seinem Zauberbuch zuwandte, nahm er seine verzweifelten Bemühungen wieder auf, das Seil durchzutrennen, indem er es an der Holzecke des Gerüsts rieb.
Hicks.
Auf dem Boden versuchte etwas Unsichtbares, den Katar aus Fesz’ Hals zu ziehen. Keiner achtete mehr auf den toten Schamanen, so daß Tolpan seinen Fuß auf Fesz’ Kopf stellen und mit beiden Händen ziehen konnte. Keiner bemerkte, wie der Katar aus dem Körper des Minotaurus glitt und unter Tolpans Tunika verschwand.
Zum Glück hatte Tolpan den Schluckauf endlich überwunden.
Zu seinem Pech würde er nicht mehr lange unsichtbar bleiben.
So vorsichtig, wie er konnte, schlich sich der unsichtbare Tolpan leise an der Minotaurenwache vorbei, die unten am Gerüst stand. Auf Händen und Knien kroch er eine Stufe nach der anderen zu Raistlin hoch.
Der Zauberer hörte das seltsame Kratzen und Rascheln auf den Stufen hinter sich und erstarrte. Noch während er das tat, merkte er, wie eine scharfe Klinge die Seile durchzuschneiden begann, die seine Hände banden.
Bei einem Blick über die Schulter sah Raistlin Tolpan auf der vorletzten Stufe. Der Kender wurde allmählich sichtbar. Raistlin schüttelte heftig den Kopf, um den Kender zu warnen, aber Tolpan war so in seine Aufgabe vertieft, daß er Raistlin nicht ansah. Selbst wenn er das getan hätte, hätte der Kender nicht die leiseste Ahnung gehabt, was der Magier ihm sagen wollte.
Der Nachtmeister hörte ein Geräusch zu seinen Füßen.
Als Tolpan aufschaute, sah er, wie der Nachtmeister nach ihm griff.
Pfeilschnell zog Tolpan den Katar zurück und warf sich nach links. Auf dem Boden des Gerüsts kam er hoch und stach nach vorn und nach unten. Der Katar sank in den gespaltenen rechten Huf des Nachtmeisters.