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Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich fest-sehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, - diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitver-schüttung, welche dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Le-ben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentüm-lich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdrückte. Er meinte modrig-kühle Luft, die Luft der Ka-tharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spüren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwärts wiegen-de Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsätze verfällt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu hören; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang der dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, daß er um des Lautes willen, um ihn zu hören und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu dürfen.

Dann stellte der Großvater das Gefäß auf den Teller zurück und ließ den Kleinen in die glatte, leicht goldige Höhlung se-hen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.

»Nun sind es bald acht Jahre«, sagte er, »daß wir dich darüber hielten und daß das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein floß . . . Küster Lassen von St. Jacobi goß es unserem gu-ten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es über deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es ge-wärmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so daß Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen Sakrament, wollen wir hoffen. Und vierundvierzig Jahre sind es in den nächsten Tagen, da war dein seliger Vater der Täufling, und von seinem Kopf floß das Wasser hier hinein. Das war hier im Haus, seinem Elternhaus, drüben im Saal, vor dem mittleren Fenster, und es war noch der alte Pastor Hesekiel, der ihn taufte, derselbe, den die Franzosen als jungen Menschen beinahe erschossen hätten, weil er gegen ihre Räubereien und Brandschatzungen gepredigt

hatte, - der ist nun auch schon lange, lange bei Gott. Aber vor fünfundsiebzig Jahren, da war ich es selber, den sie tauften, auch da im Saal, und meinen Kopf hielten sie über die Schale hier, wie sie da auf dem Teller steht, und der Geistliche sprach dieselben Worte wie bei dir und deinem Vater, und ebenso floß das warme, klare Wasser von meinem Haar (es war nicht viel mehr damals, als ich jetzt auf dem Kopfe habe) da in das golde-ne Becken hinein.«

Der Kleine blickte empor auf des Großvaters schmales Grei-senhaupt, das eben wieder über die Schale geneigt war, wie zu der längst verflossenen Stunde, von der er erzählte, und ein schon erprobtes Gefühl kam ihn an, die sonderbare, halb träu-merische, halb beängstigende Empfindung eines zugleich Zie-henden und Stehenden, eines wechselnden Bleibens, das Wie-derkehr und schwindelige Einerleiheit war, - eine Empfindung, die ihm von früheren Gelegenheiten her bekannt war, und von der wieder berührt zu werden er erwartet und gewünscht hatte: sie war es zum Teil, um derentwillen ihm die Vorzeigung des stehend wandernden Erbstücks angelegen gewesen war.

Prüfte der junge Mann sich später, so fand er, daß das Bild seines Altervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeuten-der eingeprägt hatte als das seiner Eltern: was möglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Großvater ähnlich, soweit eben ein ro-siger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ähnlich sehen kann. Hauptsächlich aber war es doch wohl für den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Persönlichkeit in der Familie gewesen war.

Im öffentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristli-cher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng her-kömmlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesell-schaftlichen Kreises, in dem man regierungsfähig war, so hart-näckig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zähen Widerstand des altfreien Pa-triziertums sich Sitz und Stimme im städtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und für das Neue zu schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts

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in Gewaltmärschen, die an den öffentlichen Opfer- und Wage-mut beständig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wußte Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glänzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vätersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterun-gen und gottlose Großstadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und wäre es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-alt-fränkisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.

So stellte der Alte, zu seinen Lebzeiten und nachher, sich dem bürgerlichen Auge dar, und wenn der kleine Hans Castorp auch nichts von Staatsangelegenheiten verstand, so machte sein still anschauendes Kinderauge im wesentlichen doch ganz die-selben Wahrnehmungen, - wortlose und also unkritische, viel-mehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die übrigens auch spä-ter, als bewußtes Erinnerungsbild, ihr wort- und zergliede-rungsfeindliches, schlechthin bejahendes Gepräge durchaus be-wahrten. Wie gesagt war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied überspringende Nächstverbundenheit und Wesensverwandt-schaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubil-den, was erblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.

Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rücken und Nacken gekrümmt, aber er suchte die Krümmung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zähnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten (denn sein Gebiß legte er nur zum Essen an), sich auf würdig-mühsa-me Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgerückte Haltung und Kinnstütze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.