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»Entschuldige, kannst du mir einen Bleistift leihen?«

Und Pribislav sah ihn an mit seinen Kirgisenaugen über den vorstehenden Backenknochen und sprach zu ihm mit seiner an-genehm heiseren Stimme, ohne Verwunderung oder doch ohne Verwunderung an den Tag zu legen.

»Gern«, sagte er. »Du mußt ihn mir nach der Stunde aber be-immt zurückgeben.« Und zog sein Crayon aus der Tasche, ein versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben mußte, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. Er erläuterte den einfachen Mechanismus, während ihre beiden Köpfe sich darüberneigten.

»Aber mach ihn nicht entzwei!« sagte er noch.

Wo dachte er hin? Als ob Hans Castorp die Absicht gehabt hätte, den Stift etwa nicht zurückzuerstatten oder gar ihn fahrläs-sig zu behandeln.

Dann sahen sie einander lächelnd an, und da nichts mehr zu sagen blieb, so kehrten sie sich erst die Schultern und dann die Kücken zu und gingen.

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Das war alles. Aber vergnügter war Hans Castorp in seinem Leben nie gewesen, als in dieser Zeichenstunde, da er mit Pri-bislav Hippes Bleistift zeichnete, - mit der Aussicht obendrein, ihn nachher seinem Besitzer wieder einzuhändigen, was als rei-ne Dreingabe zwanglos und selbstverständlich aus dem Vorher-gehenden folgte. Er war so frei, den Bleistift etwas zuzuspitzen, und von den rot lackierten Schnitzeln, die abfielen, bewahrte er drei oder vier fast ein ganzes Jahr lang in einer inneren Schub-lade seines Pultes auf, - niemand, der sie gesehen hätte, würde geahnt haben, wie Bedeutendes es damit auf sich hatte. Übri-gens vollzog die Rückgabe sich in den einfachsten Formen, was aber ganz nach Hans Castorps Sinne war, ja, worauf er sich so-gar etwas Besonderes zugute tat, - abgestumpft und verwöhnt, wie er war, durch den intimen Verkehr mit Hippe.

»Da«, sagte er. »Danke sehr.«

Und Pribislav sagte gar nichts, sondern revidierte nur flüchtig den Mechanismus und schob das Crayon in die Tasche . . .

Dann hatten sie nie wieder miteinander gesprochen, aber dies eine Mal, dank Hans Castorps Unternehmungsgeist, war es eben doch geschehen . . .

Er riß die Augen auf, verwirrt von der Tiefe seiner Entrückt-heit. »Ich glaube, ich habe geträumt!« dachte er. »Ja, das war Pribislav. Lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Wo sind die Schnitzel hingekommen? Das Pult ist auf dem Boden, zu Hause bei Onkel Tienappel. Sie müssen noch in der inneren kleinen Schublade links hinten sein. Ich habe sie nie herausgenommen. Nicht einmal soviel Aufmerksamkeit, sie wegzuwerfen, erwies ich ihnen ... Es war ganz Pribislav, wie er leibte und lebte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich ihn je so deutlich wiedersehen würde. Wie merkwürdig ähnlich er ihr sah, - dieser hier oben! Dar-um also interessiere ich mich so für sie? Oder vielleicht auch: habe ich mich darum so für ihn interessiert? Unsinn! Ein schö-ner Unsinn. Ich muß übrigens gehen, und zwar schleunigst.« Aber er blieb doch noch liegen, sinnend und sich erinnernd. Dann richtete er sich auf. »Nun, so leb wohl und hab Dank!« sagte er und bekam Tränen in die Augen, während er lächelte. Damit wollte er aufbrechen; aber er setzte sich, Hut und Stock in der Hand, rasch noch einmal nieder, denn er hatte bemerken müssen, daß seine Knie ihn nicht recht trugen. »Hoppla«, dachte er, »ich glaube, das wird nicht gehen! Und dabei soll ich Punkt

elf Uhr zum Vortrag im Eßsaal sein. Das Spazierengehen hat hier sein Schönes, aber auch seine Schwierigkeiten, wie es scheint. Ja, ja, aber hierbleiben kann ich nicht. Es ist nur, daß ich vom Liegen etwas lahm geworden bin; in der Bewegung wird es schon besser werden.« Und er versuchte nochmals, auf die Beine zu kommen, und da er sich gehörig zusammennahm, so ging es.

Immerhin wurde es eine klägliche Heimkehr, nach einem so hochgemuten Auszug. Wiederholt mußte er am Wege rasten, da er fühlte, daß sein Gesicht plötzlich weiß wurde, kalter Schweiß ihm auf die Stirne trat und das regellose Verhalten seines Her-zens ihm den Atem benahm. Kümmerlich kämpfte er sich so die Serpentinen hinab; als er aber in der Nähe des Kurhauses das Tal erreichte, sah er klar und deutlich, daß er die gedehnte Wegstrecke zum »Berghof« unmöglich noch aus eigener Kraft werde überwinden können, und da es keine Trambahn gab und kein Mietsfuhrwerk sich zeigte, so bat er einen Fuhrmann, der einen Stellwagen mit leeren Kisten gegen »Dorf« hin lenkte, ihn aufsitzen zu lassen. Rücken an Rücken mit dem Kutscher, die Beine vom Wagen hängend, von den Passanten mit ver-wunderter Teilnahme betrachtet, schwankend und nickend im Halbschlaf und unter den Stößen des Gefährtes, zog er dahin, stieg ab beim Bahnübergange, gab Geld hin, ohne zu sehen, wie viel und wie wenig, und hastete kopfüber die Wegschleife hin-

an.

»Dépêchez-vous, monsieur!« sagte der französische Türhüter. »La Conference de M. Krokowski vient de commencer.« Und Hans Castorp warf Hut und Stock in die Garderobe und zwäng-te sich hastig-behutsam, die Zunge zwischen den Zähnen, durch die kaum geöffnete Glastür in den Speisesaal, wo die Kurgesell-schaft reihenweise auf Stühlen saß, während an der rechten Schmalseite Dr. Krokowski im Gehrock hinter einem gedeckten und mit einer Wasserkaraffe geschmückten Tische stand und sprach . . .

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Analyse

Ein freier Eckplatz winkte glücklicherweise in der Nähe der Tür. Er stahl sich seitlich darauf und nahm eine Miene an, als hätte er hier schon immer gesessen. Das Publikum, mit ernster Auf-merksamkeit an Dr. Krokowskis Lippen hängend, beachtete ihn kaum; und das war gut, denn er sah schrecklich aus. Sein Ge-sicht war bleich wie Leinen und sein Anzug mit Blut befleckt, so daß er einem von frischer Tat kommenden Mörder glich. Die Dame vor ihm freilich wandte den Kopf, als er sich setzte, und musterte ihn mit schmalen Augen. Es war Madame Chauchat, er erkannte sie mit einer Art von Erbitterung. Aber das war doch des Teufels! Sollte er denn nicht zur Ruhe kommen? Er hatte gedacht, hier still am Ziele sitzen und sich ein wenig erholen zu können, und da mußte er sie nun gerade vor der Nase haben, -ein Zufall, über den er sich unter anderen Umständen ja mög-licherweise gefreut hätte, aber müde und abgehetzt, wie er war, was sollte es ihm da? Es stellte nur neue Anforderungen an sein Herz und würde ihn während des ganzen Vortrags in Atem hal-ten. Genau mit Pribislavs Augen hatte sie ihn angesehen, in sein Gesicht und auf die Blutflecke seines Anzuges geblickt, - ziem-lich rücksichtslos und zudringlich übrigens, wie es zu den Ma-nieren einer Frau paßte, die mit den Türen warf. Wie schlecht sie sich hielt! Nicht wie die Frauen in Hans Castorps heimischer Sphäre, die aufrechten Rückens den Kopf ihrem Tischherrn zu-wandten, indes sie mit den Spitzen der Lippen sprachen. Frau Chauchat saß zusammengesunken und schlaff, ihr Rücken war rund, sie ließ die Schultern nach vorne hängen, und außerdem hielt sie auch noch den Kopf vorgeschoben, so daß der Wirbel-knochen im Nackenausschnitt ihrer weißen Bluse hervortrat. Auch Pribislav hatte den Kopf so ähnlich gehalten; er jedoch war ein Musterschüler gewesen, der in Ehren gelebt hatte (ob-gleich nicht dies der Grund gewesen war, weshalb Hans Castorp sich den Bleistift von ihm geliehen hatte), - während es klar und deutlich war, daß Frau Chauchats nachlässige Haltung, ihr Türenwerfen, die Rücksichtslosigkeit ihres Blickes mit ihrem Kranksein zusammenhingen, ja, es drückten sich darin die Un-gebundenheit, jene nicht ehrenvollen, aber geradezu grenzenlo-sen Vorteile aus, deren der junge Herr Albin sich gerühmt hatte . . .