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Hans Castorps Gedanken verwirrten sich, während er auf Frau Chauchats schlaffen Rücken blickte, sie hörten auf, Gedanken zu sein, und wurden zur Träumerei, in welche Dr. Krokowskis schleppender Bariton, sein weich anschlagendes r wie aus weiter Ferne hereintönte. Aber die Stille im Saal, die tiefe Auf-merksamkeit, die ringsumher alles in Bann hielt, wirkte auf ihn, sie weckte ihn förmlich aus seinem Dämmern. Er blickte um sich . . . Neben ihm saß der dünnhaarige Pianist, den Kopf im Nacken, und lauschte mit offenem Munde und gekreuzten Ar-men. Die Lehrerin, Fräulein Engelhart, weiter drüben, hatte gie-rige Augen und rotflaumige Flecke auf beiden Wangen, - eine Hitze, die sich auf den Gesichtern anderer Damen wiederfand, die Hans Castorp ins Auge faßte, auch auf dem der Frau Salomon dort, neben Herrn Albin, und der Bierbrauersgattin Frau Magnus, derselben, die Eiweiß verlor. Auf Frau Stöhrs Gesicht, etwas weiter zurück, malte sich eine so ungebildete Schwärme--ei, daß es ein Jammer war, während die elfenbeinfarbene Levi, mit halbgeschlossenen Augen und die flachen Hände im Schoß in der Stuhllehne ruhend, vollständig einer Toten geglichen hätte, wenn nicht ihre Brust sich so stark und taktmäßig geho-ben und gesenkt hätte, wodurch sie Hans Castorp vielmehr an eine weibliche Wachsfigur erinnerte, die er einst im Panopti-kum gesehen und die ein mechanisches Triebwerk im Busen gehabt hatte. Mehrere Gäste hielten die hohle Hand an die Ohrmuschel, oder deuteten dies wenigstens an, indem sie die Hand bis halbwegs zum Ohre erhoben hielten, als seien sie mitten in der Bewegung vor Aufmerksamkeit erstarrt. Staatsanwalt Paravant, ein brauner, scheinbar urkräftiger Mann, schüttelte so-gar sein eines Ohr mit dem Zeigefinger, um es hellhöriger zu machen, und hielt es dann wieder Dr. Krokowskis Redeflüsse hin.

Was redete denn Dr. Krokowski? In welchem Gedankengan-ge bewegte er sich? Hans Castorp nahm seinen Verstand zusam-men, um aufs laufende zu kommen, was ihm nicht gleich ge-lang, da er den Anfang nicht gehört und beim Nachdenken über Frau Chauchats schlaffen Rücken Weiteres versäumt hatte. Es handelte sich um eine Macht . . . jene Macht. . . kurzum, es war die Macht der Liebe, um die es sich handelte. Selbstverständ-lich! Das Thema lag ja im Generaltitel des Vortragszyklus, und wovon sollte Dr. Krokowski denn auch sonst wohl sprechen, da

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dies nun einmal sein Gebiet war. Etwas wunderlich war es ja, auf einmal ein Kolleg über die Liebe zu hören, während sonst immer nur von Dingen wie dem Übersetzungsgetriebe im Schiffbau die Rede gewesen war. Wie fing man es an, einen Gegenstand von so spröder und verschwiegener Beschaffenheit am hellen Vormittag vor Damen und Herren zu erörtern? Dr. Krokowski erörterte ihn in einer gemischten Ausdrucksweise, in zugleich poetischem und gelehrtem Stile, rücksichtslos wissen-schaftlich, dabei aber gesanghaft schwingenden Tones, was den jungen Hans Castorp etwas unordentlich anmutete, obgleich gerade dies der Grund sein mochte, weshalb die Damen so hit-zige Wangen hatten und die Herren ihre Ohren schüttelten. In-sonderheit gebrauchte der Redner das Wort »Liebe« beständig in einem leise schwankenden Sinn, so daß man niemals recht wußte, woran man damit war, und ob es Frommes oder Leiden-schaftlich-Fleischliches bedeute, - was ein leichtes Gefühl von Seekrankheit erzeugte. Nie in seinem Leben hatte Hans Castorp dieses Wort so oft hintereinander aussprechen hören wie hier und heute, ja, wenn er nachdachte, so schien ihm, daß er selbst es noch niemals ausgesprochen oder aus fremdem Munde ver-nommen habe. Das mochte ein Irrtum sein, - jedenfalls fand er nicht, daß so häufige Wiederholung dem Worte zustatten käme. Im Gegenteil, diese schlüpfrigen anderthalb Silben mit dem Zungen-, dem Lippenlaut und dem dünnen Vokal in der Mitte wurden ihm auf die Dauer recht widerwärtig, eine Vorstellung verband sich für ihn damit wie von gewässerter Milch, - etwas Weißbläulichem, Labberigem, zumal im Vergleich mit all dem Kräftigen, was Dr. Krokowski genau genommen darüber zum besten gab. Denn so viel ward deutlich, daß man starke Stücke sagen konnte, ohne die Leute aus dem Saale zu treiben, wenn man es anfing wie er. Keineswegs begnügte er sich damit, allge-mein bekannte, doch gemeinhin in Schweigen gehüllte Dinge mit einer Art von berauschendem Takt zur Sprache zu bringen; er zerstörte Illusionen, er gab unerbittlich der Erkenntnis die Ehre, er ließ keinen Raum für empfindsamen Glauben an die Würde des Silberhaares und die Engelsreinheit des zarten Kin-des. Übrigens trug er auch zum Gehrock seinen weichen Fall-kragen und seine Sandalen über den grauen Socken, was einen grundsätzlichen und idealistischen Eindruck machte, wenn auch Hans Castorp etwas darüber erschrak. Indem er an der Hand

von Büchern und losen Blättern, die vor ihm auf dem Tische la-gen, seine Aufstellungen durch allerlei Beispiele und Anekdo-ten stützte und mehrmals sogar Verse rezitierte, handelte Dr. Krokowski von erschreckenden Formen der Liebe, wunderli-chen, leidvollen und unheimlichen Abwandlungen ihrer Er-scheinung und Allgewalt. Unter allen Naturtrieben, sagte er, sei sie der schwankendste und gefährdetste, von Grund aus zur Verirrung und heillosen Verkehrtheit geneigt, und das dürfe nicht wundernehmen. Denn dieser mächtige Impuls sei nichts Einfaches, er sei seiner Natur nach vielfach zusammengesetzt, und zwar, so rechtmäßig wie er als Ganzes auch immer sei, -

zuammengesetzt sei er aus lauter Verkehrtheiten. Da man nun liier, und zwar mit Recht, so fuhr Dr. Krokowski fort, da man es nun aber richtigerweise ablehne, aus der Verkehrtheit der Be-

standteile auf die Verkehrtheit des Ganzen zu schließen, so sei man unweigerlich genötigt, einen Teil der Rechtmäßigkeit des Ganzen, wenn nicht seine ganze Rechtmäßigkeit, auch für die einzelne Verkehrtheit in Anspruch zu nehmen. Das sei eine For-derung der Logik, und daran bitte er seine Zuhörer festzuhalten. Seelische Widerstände und Korrektive seien es, anständige und ordnende Instinkte von - fast hätte er sagen mögen bürgerlicher Art, unter deren ausgleichender und einschränkender Wirkung die verkehrten Bestandteile zum regelrechten und nützlichen Ganzen verschmölzen, - ein immerhin häufiger und begrüßens-werter Prozeß, dessen Ergebnis jedoch (wie Dr. Krokowski etwas wegwerfend hinzufügte) den Arzt und Denker weiter nichts angehe. In einem anderen Falle dagegen gelinge er nicht, dieser Prozeß, wolle und solle er nicht gelingen, und wer, so fragte Dr. Krokowski, vermöge zu sagen, ob dies nicht vielleicht den edleren, seelisch kostbareren Fall bedeute? In diesem Falle nämlich eigne beiden Kräftegruppen, dem Liebesdrange sowohl wie jenen gegnerischen Impulsen, unter denen Scham und Ekel besonders zu nennen seien, eine außerordentliche, das bür-gerlich-übliche Maß überschreitende Anspannung und Leiden-schaft, und, in den Untergründen der Seele geführt, verhindere der Kampf zwischen ihnen jene Einfriedung, Sicherung und Sittigung der irrenden Triebe, die zur üblichen Harmonie, zum vorschriftsmäßigen Liebesleben führe. Dieser Widerstreit zwischen den Mächten der Keuschheit und der Liebe - denn um einen solchen handle es sich -, wie gehe er aus? Er endige

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scheinbar mit dem Siege der Keuschheit. Furcht, Wohlanstand, züchtiger Abscheu, zitterndes Reinheitsbedürfnis, sie unter-drückten die Liebe, hielten sie in Dunkelheiten gefesselt, ließen ihre wirren Forderungen höchstens teilweise, aber bei weitem nicht nach ihrer ganzen Vielfalt und Kraft ins Bewußtsein und zur Betätigung zu. Allein dieser Sieg der Keuschheit sei nur ein Schein- und Pyrrhussieg, denn der Liebesbefehl lasse sich nicht knebeln, nicht vergewaltigen, die unterdrückte Liebe sei nicht tot, sie lebe, sie trachte im Dunklen und Tiefgeheimen auch fer-ner sich zu erfüllen, sie durchbreche den Keuschheitsbann und erscheine wieder, wenn auch in verwandelter, unkenntlicher Gestalt . . . Und welches sei denn nun die Gestalt und Maske, worin die nicht zugelassene und unterdrückte Liebe wiederer-scheine? So fragte Dr. Krokowski und blickte die Reihen ent-lang, als erwarte er die Antwort ernstlich von seinen Zuhörern. Ja, das mußte er nun auch noch selber sagen, nachdem er schon so manches gesagt hatte. Niemand außer ihm wußte es, aber er würde bestimmt auch dies noch wissen, das sah man ihm an. Mit seinen glühenden Augen, seiner Wachsblässe und seinem schwarzen Bart, dazu den Mönchssandalen über grauwollenen Socken, schien er selbst in seiner Person den Kampf zwischen Keuschheit und Leidenschaft zu versinnbildlichen, von dem er gesprochen hatte. Wenigstens war dies Hans Castorps Eindruck, während er wie alle Welt mit größter Spannung die Antwort darauf erwartete, in welcher Gestalt die unzugelassene Liebe wiederkehre. Die Frauen atmeten kaum. Staatsanwalt Paravant schüttelte rasch noch einmal sein Ohr, damit es im entscheiden-den Augenblick offen und aufnahmefähig wäre. Da sagte Dr. Krokowski: In Gestalt der Krankheit! Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.