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Nun wußte man" es, wenn auch wohl nicht alle es ganz zu würdigen vermochten. Ein Seufzer ging durch den Saal, und Staatsanwalt Paravant nickte bedeutsamen Beifall, während Dr. Krokowski fortfuhr, seine These zu entwickeln. Hans Castorp seinerseits senkte den Kopf, um zu bedenken, was er gehört hatte, und sich zu erforschen, ob er es verstünde. Aber ungeübt, wie er war in solchen Gedankengängen, und außerdem wenig geisteskräftig infolge seines unbekömmlichen Spazierganges, war er leicht abzulenken und wurde denn auch sogleich abge-

lenkt durch den Rücken vor ihm und den zugehörigen Arm, der »ich hob und rückwärts bog, um mit der Hand, dicht vor Hans Castorps Augen, von unten das geflochtene Haar zu stützen. Es war beklemmend, die Hand so nahe vor Augen zu haben, man mußte sie betrachten, ob man wollte oder nicht, sie stu-dieren in allen Makeln und Menschlichkeiten, die ihr anhafte-ten, als habe man sie unter dem Vergrößerungsglas. Nein, sie hatte durchaus nichts Aristokratisches, diese zu gedrungene Schulmädchenhand mit den schlecht und recht beschnittenen Nägeln, - man war nicht einmal sicher, ob sie an den äußeren Fingergelenken ganz sauber war, und die Haut neben den Nä-rrin war zerbissen, das konnte gar keinem Zweifel unterliegen. Hans Castorps Mund verzog sich, aber seine Augen blieben haf-ten an Madame Chauchats Hand und eine halbe und unbe-stimmte Erinnerung ging ihm durch den Sinn an das, was Dr. Krokowski über die bürgerlichen Widerstände, die sich der Liebe entgegenstellten, gesagt hatte . . . Der Arm war schöner, dieser weich hinter den Kopf gebogene Arm, der kaum bekleidet war, denn der Stoff der Ärmel war dünner als der der Bluse, -die leichteste Gaze, so daß der Arm nur eine gewisse duftige Verklärung dadurch erfuhr und ganz ohne Umhüllung wahr-scheinlich weniger anmutig gewesen wäre. Er war zugleich zart und voll - und kühl, aller Mutmaßung nach. Es konnte hin-

sichtlich seiner von keinerlei bürgerlichen Widerständen die Rede sein.

Hans Castorp träumte, den Blick auf Frau Chauchats Arm ge-richtet. Wie die Frauen sich kleideten! Sie zeigten dies und je-nes von ihrem Nacken und ihrer Brust, sie verklärten ihre Arme mit durchsichtiger Gaze . . . Das taten sie in der ganzen Welt, um unser sehnsüchtiges Verlangen zu erregen. Mein Gott, das Leben war schön! Es war schön gerade durch solche Selbstver-ständlichkeit, wie daß die Frauen sich verlockend kleideten -denn selbstverständlich war es ja und so allgemein üblich und inerkannt, daß man kaum daran dachte und es sich unbewußt und ohne Aufhebens gefallen ließ. Man sollte aber daran den-ken, meinte Hans Castorp innerlich, um sich des Lebens recht

zu freuen, und sich vergegenwärtigen, daß es eine beglückende und im Grunde fast märchenhafte Einrichtung war. Versteht sich, es war um eines gewissen Zweckes willen, daß die Frauen sich märchenhaft und beglückend kleiden durften, ohne da-

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durch gegen die Schicklichkeit zu verstoßen; es handelte sich um die nächste Generation, um die Fortpflanzung des Men-schengeschlechts, jawohl. Aber wie, wenn die Frau nun inner-lich krank war, so daß sie gar nicht zur Mutterschaft taugte, -was dann? Hatte es dann einen Sinn, daß sie Gazeärmel trug, um die Männer neugierig auf ihren Körper zu machen, - ihren innerlich kranken Körper? Das hatte offenbar keinen Sinn und hätte eigentlich für unschicklich gelten und untersagt werden müssen. Denn daß ein Mann sich für eine kranke Frau interes-sierte, dabei war doch entschieden nicht mehr Vernunft, als . . . nun, als seinerzeit bei Hans Castorps stillem Interesse für Pribis-lav Hippe gewesen war. Ein dummer Vergleich, eine etwas peinliche Erinnerung. Aber sie hatte sich ungerufen und ohne sein Zutun eingestellt. Übrigens brach seine träumerische Be-trachtung an diesem Punkte ab, hauptsächlich weil seine Auf-merksamkeit wieder auf Dr. Krokowski hingelenkt wurde, des-sen Stimme sich auffallend erhoben hatte. Wahrhaftig, er stand da mit ausgebreiteten Armen und schräg geneigtem Kopf hinter seinem Tischchen und sah trotz seines Gehrockes beinahe aus wie der Herr Jesus am Kreuz!

Es stellte sich heraus, daß Dr. Krokowski am Schlusse seines Vortrages große Propaganda für die Seelenzergliederung machte und mit offenen Armen alle aufforderte, zu ihm zu kommen. Kommet her zu mir, sagte er mit anderen Worten, die ihr müh-selig und beladen seid! Und er ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß alle ohne Ausnahme mühselig und beladen waren. Er sprach von verborgenem Leide, von Scham und Gram, von der erlösenden Wirkung der Analyse; er pries die Durchleuchtung des Unbewußten, lehrte die Wiederverwand-lung der Krankheit in den bewußt gemachten Affekt, mahnte zum Vertrauen, verhieß Genesung. Dann ließ er die Arme sin-ken, stellte seinen Kopf wieder gerade, raffte die Druckschriften zusammen, die ihm bei seinem Vortrage gedient hatten, und in-dem er das Päckchen, ganz wie ein Lehrer, mit der linken Hand gegen die Schulter lehnte, entfernte er sich erhobenen Hauptes durch den Wandelgang.

Alle standen auf, rückten die Stühle und begannen, sich lang-sam gegen denselben Ausgang zu bewegen, durch den der Dok-tor den Saal verlassen hatte. Es sah aus, als drängten sie ihm konzentrisch nach, von allen Seiten, zögernd, doch willenlos

und in benommener Einhelligkeit, wie das Gewimmel hinter dem Rattenfänger. Hans Castorp blieb stehen im Strom, seine Stuhllehne in der Hand. Ich bin nur zu Besuch hier, dachte er; ich bin gesund und komme gottlob überhaupt nicht in Betracht, und den nächsten Vortrag erlebe ich gar nicht mehr hier. Er sah Frau Chauchat hinausgehen, schleichend, mit vorgeschobenem Kopfe. Ob auch sie sich zergliedern läßt? dachte er, und sein Herz begann zu pochen . . . Dabei bemerkte er nicht, daß Joachim zwischen den Stühlen auf ihn zu kam, und zuckte nervös zusammen, als der Vetter das Wort an ihn richtete.

»Du kamst aber im letzten Augenblick«, sagte Joachim. »Bist du weit gewesen? Wie war es denn?«

»Oh, nett«, erwiderte Hans Castorp. »Doch, ich war ziemlich weit. Aber ich muß gestehen, es hat mir weniger gut getan, als Ich erwartete. Es war wohl verfrüht oder überhaupt verfehlt. Ich werde es vorläufig nicht wieder tun.«

Ob ihm der Vortrag gefallen, fragte Joachim nicht, und Hans Castorp äußerte sich nicht dazu. Wie nach schweigender Über-einkunft erwähnten sie des Vortrages auch nachher mit keinem Worte.