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»Wie berührt mich wundersam Oft ein Wort von dir«,

und er war im Begriffe, hinzuzusetzen:

»Das von deiner Lippe kam Und zum Herzen mir!« -

als er plötzlich die Achseln zuckte, »lächerlich« sagte und das zarte Liedchen als abgeschmackt und läppisch empfindsam ver-warf und von sich wies, - es mit einer gewissen Melancholie und Strenge von sich wies. An solchem innigen Liedchen mochte irgendein junger Mann Genüge und Gefallen finden, der »sein Herz«, wie man zu sagen pflegt, erlaubter-, friedli-cher- und aussichtsreicherweise irgendeinem gesunden Gäns-chen dort unten im Flachlande »geschenkt« hatte und sich nun leinen erlaubten, aussichtsreichen, vernünftigen und im Grunde vergnügten Empfindungen überließ. Für ihn und sein Verhältnis zu Madame Chauchat - das Wort »Verhältnis« kommt auf seine Rechnung, wir lehnen die Verantwortung dafür ab - schickte

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sich ein solches Gedichtchen entschieden nicht; in seinem Lie-gestuhl fand er sich bewogen, das ästhetische Urteil »albern!« darüber zu fällen und brach in der Mitte ab, indem er die Nase rümpfte, obgleich er nichts Geeigneteres dafür einzusetzen wußte.

Eins aber bereitete ihm Genugtuung, wenn er lag und auf sein Herz, sein körperliches Herz achtete, das rasch und ver-nehmlich in der Stille pochte, - der vorschriftsmäßigen Haus-ordnungsstille, die während der Haupt- und Schlafliegekur über dem ganzen »Berghof« waltete. Es pochte hartnäckig und vor-dringlich, sein Herz, wie es das fast beständig tat, seitdem er hier oben war; doch nahm Hans Castorp neuerdings weniger Anstoß daran als in den ersten Tagen. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, daß es auf eigene Hand, grundlos und ohne Zu-sammenhang mit der Seele klopfte. Ein solcher Zusammenhang war vorhanden oder doch unschwer herzustellen; eine rechtfer-tigende Gemütsbewegung ließ sich der exaltierten Körpertätig-keit zwanglos unterlegen. Hans Castorp brauchte nur an Frau Chauchat zu denken - und er dachte an sie -, so besaß er zum Herzklopfen das zugehörige Gefühl.

Aufsteigende Angst Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht

Das Wetter war spottschlecht, - in dieser Beziehung hatte Hans Castorp kein Glück mit seinem flüchtigen Aufenthalt in diesen Gegenden. Es schneite nicht gerade, aber es regnete tagelang schwer und häßlich, dicke Nebel erfüllten das Tal, und Gewitter von lächerlicher Überflüssigkeit - denn es war ohnehin so kalt, daß man im Speisesaal sogar geheizt hatte - entluden sich mit umständlich ausrollendem Widerhall.

»Schade«, sagte Joachim. »Ich hatte gedacht, wir wollten mal mit dem Frühstück auf die Schatzalp oder sonst etwas unterneh-men. Aber es scheint, es soll nicht sein. Hoffentlich wird deine letzte Woche besser.«

Aber Hans Castorp antwortete:

»Laß nur. Ich brenne gar nicht auf Unternehmungen. Meine erste ist mir nicht sonderlich bekommen. Ich erhole mich am besten, wenn ich so in den Tag hineinlebe, ohne viel Abwechs-

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lung. Abwechslung ist für die Langjährigen. Aber ich mit mei-nen drei Wochen, was brauche ich Abwechslung.«

So war es, er fühlte sich ausgefüllt und beschäftigt an Ort und Stelle. Wenn er Hoffnungen hegte, so blühten Erfüllung wie Enttäuschung ihm hier, und nicht auf irgendeiner Schatzalp. Langeweile war es nicht, was ihn plagte; im Gegenteil begann er zu fürchten, das Ende seines Aufenthalts möchte allzu be-schwingt erscheinen. Die zweite Woche schritt vor, zwei Drittel seiner Zeit würden bald abgelebt sein, und brach erst das dritte an, so dachte man schon an den Koffer. Die erste Auffrischung von Hans Castorps Zeitsinn war längst vorbei; schon begannen die Tage dahinzufliegen, und das taten sie, obgleich jeder ein-elne von ihnen sich in immer erneuter Erwartung dehnte und von stillen, verschwiegenen Erlebnissen schwoll ... Ja, die Zeit ist ein rätselhaftes Ding, es hat eine schwer klarzustellende Be-wandtnis mit ihr!

Wird es nötig sein, jene verschwiegenen Erlebnisse, die Hans Castorps Tage zugleich beschwerten und beschwingten, näher zu kennzeichnen? Aber jedermann kennt sie, es waren durchaus die gewöhnlichen in ihrer sensiblen Nichtigkeit, und in einem vernünftiger und aussichtsreicher gelagerten Fall, auf den das abgeschmackte Liedchen »Wie berührt mich wundersam« an-wendbar gewesen wäre, hätten sie sich auch nicht anders abspie-len können.

Unmöglich, daß Madame Chauchat von den Fäden, die sich von einem gewissen Tische zu ihrem spannen, nicht irgend etwas hätte bemerken sollen; und daß sie etwas, ja möglichst viel davon bemerkte, lag zügelloserweise durchaus in Hans Castorps Absichten. Wir nennen das zügellos, weil er sich über die Ver-ftwidrigkeit seines Falles völlig im klaren war. Aber um wen es steht, wie es um ihn stand oder zu stehen begann, der will, daß man drüben von seinem Zustande Kenntnis habe, auch wenn kein Sinn und Verstand bei der Sache ist. So ist der Mensch.

Nachdem also Frau Chauchat sich zwei- oder dreimal zufällig oder unter magnetischer Einwirkung beim Essen nach jenem lisch umgewandt hatte und jedesmal den Augen Hans Castorps begegnet war, blickte sie zum viertenmal mit Vorbedacht hin-über und begegnete seinen Augen auch diesmal. In einem fünf-ten Fall ertappte sie ihn zwar nicht unmittelbar; er war gerade

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nicht auf dem Posten. Doch fühlte er es sofort, daß sie ihn an-sah, und blickte ihr so eifrig entgegen, daß sie sich lächelnd ab-wandte. Mißtrauen und Entzücken erfüllten ihn angesichts dieses Lächelns. Wenn sie ihn für kindlich hielt, so täuschte sie sich. Sein Bedürfnis nach Verfeinerung war bedeutend. Bei sechster Gelegenheit, als er ahnte, spürte, die innere Kunde ge-wann, daß sie herüberblickte, tat er, als betrachte er mit ein-dringlichem Mißfallen eine finnige Dame, die an seinen Tisch getreten war, um mit der Großtante zu plaudern, hielt eisern durch, wohl zwei oder drei Minuten lang, und gab nicht nach, bis er sicher war, daß die Kirgisenaugen dort drüben von ihm abgelassen hatten, - eine wunderliche Schauspielerei, die Frau Chauchat nicht nur durchschauen mochte, sondern ausdrücklich durchschauen sollte, damit Hans Castorps große Feinheit und Selbstbeherrschung sie nachdenklich stimme ... Es kam zu fol-gendem. In einer Eßpause wandte Frau Chauchat sich nachlässig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansehen -die Kranke unbestimmt spähend und spöttisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit (er biß sogar die Zähne zusammen, wäh-rend er ihren Augen standhielt) - will ihr die Serviette entfal-len, ist im Begriffe, ihr vom Schoße zu Boden zu gleiten. Ner-vös zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fährt es in die Glieder, es reißt ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er über acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe stürzen, als würde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden er-reichte . . . Knapp über dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebückten Haltung, überquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar ärgerlich über die unvernünftige kleine Panik, der sie unterle-gen und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, - blickt sie noch einmal nach ihm zurück, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lächelnd ab.

Über dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur, Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Rückschlag nicht aus, denn Madame Chauchat wandte sich nun volle zwei Tage lang, also während der Dauer von zehn Mahlzeiten, überhaupt nicht mehr nach dem Saale um, ja, unterließ es sogar, sich bei ihrem Ein-tritt, wie es sonst ihre Gepflogenheit gewesen, dem Publikum