Jake Rubinstein, Altieris Anwalt, fragte:
»Dr. Russell, haben Sie in New York eine Praxis?«
»Nein. Ich bin nur in Boston niedergelassen.«
»Haben Sie Mr. Altieri am fraglichen Tag wegen Herzrhythmusstörungen behandelt?«
»Ja. Gegen neun Uhr morgens. Und ich habe ihn den ganzen Tag zur Beobachtung in meiner Praxis behalten.«
»Dann konnte er also am vierzehnten Oktober nicht in New York gewesen sein?«
»Nein.«
Ein weiterer Zeuge erschien auf dem Fernsehschirm.
»Würden Sie uns bitte Ihren Beruf angeben, Sir?« »Ich bin Direktor des Boston Park Hotels.«
»Waren Sie am vierzehnten Oktober letzten Jahres im Dienst?«
»Jawohl.«
»Ist an diesem Tag etwas Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Ja. Ich habe einen dringenden Anruf aus der Penthousesuite erhalten und wurde gebeten, unverzüglich einen Arzt zu rufen.«
»Was ist danach geschehen?«
»Ich habe Dr. Joseph Russell angerufen, der sofort vorbeikam. Er begab sich in die Penthouse suite, um nach dem Gast zu sehen, Mr. Anthony Altieri.«
»Was haben Sie gesehen, als Sie dort eintrafen?«
»Mr. Altieri lag am Boden. Ich dachte, er würde in unserem Hotel sterben.«
Diane war blass geworden. »Sie lügen«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Alle beide.«
Anschließend brachte der Fernsehsender ein Interview mit Anthony Altieri. Er wirkte krank und gebrechlich.
»Haben Sie irgendwelche Pläne für die nächste Zukunft, Mr. Altieri?«
»Nachdem jetzt der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, werde ich einfach eine Zeit lang ausspannen.« Altieri rang sich ein schmales Lächeln ab. »Vielleicht begleiche ich auch ein paar alte Rechnungen.«
Kelly war fassungslos. Sie wandte sich an Diane. »Sie haben gegen ihn ausgesagt?«
»Ja. Ich habe gesehen, wie er ...«
Kellys Hände zitterten so sehr, dass sie den Salzstreuer umstieß und etwas Tee verschüttete. »Ich haue ab.«
»Weshalb sind Sie denn so nervös?«
»Weshalb ich nervös bin? Sie haben versucht, einen Mafiaboss hinter Gitter zu bringen, aber er ist auf freiem Fuß und will ein paar alte Rechnungen begleichen. Und Sie wollen wissen, weshalb ich nervös bin? Sie sollten ebenfalls nervös sein.« Kelly stand auf und warf ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Ich übernehme die Rechnung. Sie sollten Ihr Geld lieber für die Reisekosten sparen, Mrs. Stevens.«
»Warten Sie! Wir haben noch gar nicht über Ihren Mann gesprochen und ...«
»Vergessen Sie’s.« Kelly ging zur Tür und Diane folgte ihr nach kurzem Zögern.
»Ich glaube, Sie übertreiben ein bisschen«, erwiderte Diane.
»Aha?«
Als sie zum Ausgang kamen, sagte Kelly: »Ich begreife nicht, wie Sie so dumm sein konnten und .«
Ein älterer Mann, der sich auf Krücken stützte, kam gerade herein. Eine der Krücken rutschte ihm auf den glatten Fliesen weg, und er drohte zu stürzen. Einen Moment lang hatte Kelly die Vorstellung, sie wäre in Paris und sähe Mark fallen. Sie beugte sich vor, um ihn festzuhalten, und gleichzeitig bückte sich auch Diane und wollte ihn auffangen. In diesem Augenblick fielen auf der anderen Straßenseite zwei Schüsse, und die Kugeln schlugen in die Wand ein, genau dort, wo die beiden Frauen eben noch gestanden hatten. Das laute Knallen brachte Kelly sofort wieder zur Besinnung. Sie war in Manhattan und hatte gerade mit einer Verrückten Tee getrunken.
»Mein Gott!«, rief Diane. »Wir .«
»Für Gebete haben wir jetzt keine Zeit. Nichts wie weg von hier!«
Kelly stieß Diane hinaus auf den Gehsteig, wo Colin neben der Limousine stand. Er riss die Tür auf, und Kelly und Diane ließen sich auf den Rücksitz fallen.
»Was war das für ein Krach?«, fragte Colin.
Die beiden Frauen saßen zusammengekauert im Fond und brachten vor lauter Aufregung kein Wort heraus.
»Das, äh, muss eine Fehlzündung gewesen sein«, stieß Kelly schließlich hervor. Sie wandte sich an Diane, die mühsam die Fassung wiederzugewinnen suchte. »Hoffentlich übertreibe ich nicht schon wieder«, sagte sie spöttisch. »Wo wohnen Sie? Ich setze Sie dort ab.«
Diane holte tief Luft und nannte Colin die Hausnummer ihres Apartmentgebäudes. Schweigend saßen die beiden Frauen während der Fahrt nebeneinander, noch immer erschüttert von dem, was sie gerade erlebt hatten.
Als der Wagen vor ihrem Wohnhaus hielt, wandte sich Diane an Kelly. »Wollen Sie mit reinkommen? Ich bin ein bisschen mitgenommen. Ich habe das Gefühl, dass noch mehr passieren könnte.«
»Ganz meine Meinung«, versetzte Kelly. »Aber ich will nichts damit zu tun haben. Auf Wiedersehen, Mrs. Stevens.«
Diane schaute Kelly einen Moment lang an, als wollte sie etwas sagen, schüttelte dann den Kopf und stieg aus.
Kelly blickte Diane hinterher, als sie ins Foyer trat und zu ihrer Wohnung im Erdgeschoss ging. Erleichtert seufzte sie auf.
»Wohin möchten Sie, Mrs. Harris?«, sagte Colin.
»Zurück zum Hotel, Colin, und .«
Ein lauter Schrei drang aus dem Apartment. Kelly zögerte einen Moment, stieß dann die Autotür auf und rannte in das Haus. Diane hatte die Tür zu ihrem Apartment offen gelassen und stand zitternd im Wohnzimmer.
»Was ist passiert?«
»Jemand - jemand ist hier eingebrochen. Richards Aktenkoffer lag auf dem Tisch, und jetzt ist er weg. Seinen Ehering haben sie liegen gelassen.«
Kelly sah sich nervös um. »Sie sollten lieber die Polizei rufen.«
»Ja.« Diane erinnerte sich an die Visitenkarte, die Detective Greenburg auf dem Beistelltisch im Flur hinterlassen hatte. Sie ging hin und holte sie. Kurz darauf war sie am Telefon und sagte: »Detective Greenburg bitte.«
Es dauerte einen Moment.
»Greenburg.«
»Detective Greenburg, hier ist Diane Stevens. Hier ist etwas passiert. Könnten Sie vielleicht zu meinem Apartment kommen und ... Danke.«
Diane holte tief Luft und wandte sich an Kelly. »Er kommt her. Wenn es Ihnen nichts ausmacht zu warten, bis er .«
»Ich denke nicht daran. Das ist Ihre Sache. Ich will nichts damit zu tun haben. Und vielleicht sollten Sie auch erwähnen, dass irgendjemand Sie kurz zuvor umbringen wollte. Ich kehre nach Paris zurück. Auf Wiedersehen, Mrs. Stevens.«
Diane blickte Kelly hinterher, als sie hinausging und in die Limousine stieg.
»Wohin?«, fragte Colin.
»Zum Hotel bitte.«
Wo sie in Sicherheit sein würde.
21
Kelly war noch immer aufgewühlt, als sie in ihr Hotelzimmer zurückkehrte. Sie war sich nur zu deutlich bewusst, dass sie um Haaresbreite dem Tod entgangen war. Das hat mir gerade noch gefehlt, dass ich wegen eines blonden Dummchens ermordet werde.
Kelly ließ sich auf die Couch sinken, um sich zu beruhigen, und schloss die Augen. Sie versuchte, zu meditieren und sich auf ein Mantra zu konzentrieren, aber es nützte nichts. Sie war zu mitgenommen. Und mit einem Mal empfand sie nur noch eine große innere Leere, fühlte sich einsam und allein gelassen. Mark, ich vermisse dich so sehr. Die Leute sagen, mit der Zeit vergeht das. Aber es stimmt nicht, mein Liebling. Es wird jeden Tag schlimmer.
Dann hörte sie, wie der Wagen des Zimmerkellners den Flur entlanggeschoben wurde, und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Sie war nicht hungrig, aber sie musste zusehen, dass sie bei Kräften blieb.