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Hartung ritt halbherzig. Er spürte die Gefahr, irgendwo in diesem Rund mit den tobenden Menschen verbarg sie sich. Irgendwo saß der Tod und wartete auf den günstigsten Augenblick. Wann war dieser Augenblick? Wie kam er? Wirklich mit einem Gewehrschuß?

Hartung spürte, wie ihm der kalte Schweiß über den ganzen Körper rann. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er Todesangst, fühl-te er sich hilflos einer Situation ausgeliefert, von der er wußte, daß sie voraussichtlich in einer Katastrophe enden würde.

Ich bin kein Feigling, redete er sich zu. Reite weiter. Nein, höre nicht aufdie innere Stimme, die dir rät, den Ritt abzubrechen. Weiter, weiter. Über die Mauer, über den Doppeloxer, über den Steilsprung. Noch drei Hindernisse, dann das Hinausreiten — genügend Zeit und Wegstrecke, hier das Leben zu verlieren.

Warum schießt er denn nicht? Warum wartet er? Und wenn er Las-ka trifft? Er sieht ja jetzt, daß sie springen kann wie kein anderes Pferd auf der Erde. Mein Gott, wenn er statt auf mich wirklich auf Laska zielt.

Schweiß. Schweiß über den Augen, im Nacken, auf dem Rücken, in den Händen. Kalter Angstschweiß. Ich zittere ja. Ich zittere vor Angst. Laska, mein Mädchen, mein liebes Mädchen, ich war ein Narr, ich hätte bezahlen sollen, jetzt ist es zu spät.

Es war der Augenblick, in dem er hätte schreien können, in dem seine Nerven versagten, in dem er nichts mehr war als ein geschütteltes Angstbündel.

Laska.

Noch zwei Hindernisse.

Das letzte.

Mario Albertino atmete ganz ruhig durch. Im Visier, im Fadenkreuz, im Auge des Todes hatte er Hartungs Kopf. Das Funkgerät neben ihm schwieg. Der Tod braucht keine lauten Worte.

Hartung beugte sich über Laskas Kopf. Ihre Ohren spielten nervös, ihr Kopf, sonst gestreckt, schob sich hoch. Ihr Instinkt, ihr unglaubliches Gefühl sagte ihr, daß etwas nicht stimmte, daß ihr Herr auf ihrem Rücken nicht mehr ihr Herr war, und es war anders als in Tokio, wo er mit gebrochenem Schlüsselbein ritt, ganz anders. Der Strom der Angst ging von Hartung auf Laska über. Es war ein Rätsel, das niemand lösen konnte.

Das letzte Hindernis.

Mario Albertino krümmte langsam den Finger. Druckpunkt. Groß war Hartung im Kreuz. Jetzt der Sprung — auf dem Scheitel des Sprunges wurde abgedrückt.

Und da geschah es. Es kam so plötzlich, daß die dreißigtausend Zuschauer erst aufschrien, als es schon vorbei war.

Laska brach aus. Mitten im Angalopp machte sie eine Wendung, Rasenstücke wirbelten hoch, der goldene Körper wirbelte zur Seite und raste neben dem Hindernis vorbei zum Ausritt.

Zum erstenmal in ihrem Leben hatte Laska ein Hindernis verweigert.

Sie hatte Hartung das Leben gerettet.

«Ich kann nichts dafür!«schrie oben an der Anzeigetafel Mario Albertino in das Funkgerät.»Ich hatte ihn genau im Visier. Chef, ich hätte ihn getroffen. Wer denkt denn an so etwas.«

«Sei still. «Die Stimme war erregt, dieser Ritt hatte sogar den Com-mendatore Nerven gekostet.»Er hat vier Fehler gemacht. Italien hat gesiegt. Wir werden statt zwei Millionen Lire fünf kassieren. Dafür darf er leben. Pack ein und komm herunter.«

Als Hartung aus dem Stadion galoppierte, schweißüberströmt und mit Tränen in den Augen, raste er an einem fassungslosen Fallersfeld vorbei. Er stand da, mit leerem linken Auge, sein Monokel lag zerbrochen auf der Erde.

Auch das war das erstemal. In der Hand hielt er wie eine traurige Fahne das Wildlederläppchen.

«Ich werde dieses Pferd küssen«, stammelte er,»und wenn es mir die ganze Visage zerbeißt!«

Das Erdbeben von Manila

Moro Memanuk galt überall als ein Idiot.

Wenn er durch die Straßen Manilas schlurfte, auf dem großen Markt bettelnd seine Hände ausstreckte oder im Hafen die Frem-den mit einem hüpfenden Tanz begrüßte, lachten die Filipinos und riefen:»Seht da! Moro ist von den bösen Geistern befallen!«Dann neckten sie ihn, zogen an seinen zotteligen Haaren, äfften seine Bewegungen nach und drückten ihm statt Münzen Knöpfe oder sogar Hundedreck in die Hand.

«Gott wird euch strafen!«heulte Moro dann und hob die Arme anklagend zum Himmel.»Gott vergißt das nicht! Denkt an mich! Denkt an mich!«

Niemand nahm ihm die Drohungen übel. Ein armer Idiot, dieser Memanuk. Taucht überall auf, wo etwas los ist, und davon lebt er ja auch — bei Volksfesten, bei der Staatsgründungsfeier, beim Präsidentengeburtstag, bei allen Fußballspielen, in den kleinen Arenen der Hahnenkämpfe, an Markttagen, beim Karneval, bei der Wahl der >Miss Philippinern, kein Fest ohne Moro Memanuk.

«Eigentlich müßte er schon Millionär sein«, lachte selbst der Polizeipräsident von Manila. Auch im Präsidium war Moro bekannt wie ein gestreift lackierter Hund.»Bei diesen Trinkgeldern! Gestern hat er vor einer amerikanischen Reisegruppe getanzt und so viel geschenkt bekommen, wie ein Polizeiinspektor im halben Jahr verdient. Aber dann versäuft er alles wieder und liegt acht Tage betäubt am Straßenrand.«

In diesen Tagen hatte Moro Memanuk Hochsaison. Zum erstenmal fand in Manila ein internationales Reit- und Springturnier statt. In Grace Park, nördlich der Stadt, wo die weißen Villen der Reichen standen, Häuser im säulenverzierten spanischen Kolonialstil, von paradiesischen Gärten umgeben, hatte man mit viel Geld, Mühe und Phantasie einen Reitplatz gebaut und erwartete nun die Elite der Reiter aus aller Welt. Da der Staatspräsident selbst eingeladen hatte und das Turnier somit eine fast diplomatische Angelegenheit wurde, sagten auch die Nationen zu, die sonst nie nach Manila gekommen wären, um einen Pokal zu gewinnen, wie man ihn zu Dutzenden bequemer vor der Haustür ausreiten konnte.

Als die deutschen Pferde nach einem anstrengenden Flug und vier Zwischenlandungen in Manila ankamen, waren die Sowjets, die Amerikaner, eine australische Equipe und die Franzosen schon da. Moro Memanuk hatte soviel zu tun wie noch nie in seinem Leben, kassierte massenhaft Dollars und philippinische Pesos und entdeckte eine neue Begabung in sich — das Weissagen.

Damit allerdings machte er sich zunehmend Feinde, denn was er in der Zukunft zu sehen glaubte, war dunkel, ja schwarz.

«Das Strafgericht wird über uns hereinbrechen!«schrie er, wenn er genügend Menschen um sich versammelt hatte.»Betet, Brüder und Schwestern. Die Erde wird aufbrechen und die Sünder verschlingen, die Berge werden Feuer speien, und glühende Asche wird auf unsere Häupter regnen. Wo Häuser standen, werden Höhlen gähnen, und die Gärten werden sich verwandeln in eine öde Wüste.«

Man lachte über ihn, wie immer.»Sorry«, sagte ein Engländer gemütlich.»Er hat die Offenbarung des Johannes auswendig gelernt. Und Vulkane gibt's hier auch genug. Aber er bringt es gut.«

Moro Memanuk kassierte. Er hatte sich jetzt einen Hut aus Maisstroh zugelegt, da seine Hände für die Spenden zu klein wurden. Am Abend lag er im Hafen zwischen Kisten und Ballen, roch entsetzlich nach Schnaps und schnarchte den Mond an.

Merkwürdig verhielten sich nur die Russen.

Von jeher galten in Rußland die Idioten als etwas Besonderes. Bei den Zaren und Fürsten wurden sie als Hofnarren gehalten, als Wundermänner, die ihren Verstand nur deshalb verloren hatten, weil Gott durch ihre Einfalt zu den Menschen sprach. Erkrankte am Zarenhof jemand, holte man die Stammler und Epileptiker, die Blöden und Schwachsinnigen an die Krankenbetten und ließ sie ihre makabren Späße treiben. Ihre Weissagungen wurden ernst genommen, man nannte sie die >heiligen Idioten<.

Etwas von diesem Mysterienglauben mußte auch bei den sowjetischen Reitern zurückgeblieben sein, sie hörten dem keifenden Moro zu, ließen sich seine Worte übersetzen, lachten und klatschten nicht Beifall, gaben aber auch kein Geld, sondern gingen nachdenklich zu den neuerbauten Ställen zurück.

Zwei Stunden später raufte sich Tapa Tambog, der philippinische

Turnierleiter, die Haare: Die Russen verlangten andere Ställe, an dem entgegengesetzten Teil der Stadt, an der Laguna de Bay. Keine festen Bauten, nur Zelte.