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Gordonius spielte mit der Rechten nervös an der schlichten Schnur, die sein Gewand zusammenhielt.

»Ich erwarte Eure Antwort ...«

»Nein«, murmelte der alte Mann leise.

»Ich habe Euch nicht verstanden.« Marcian maß den Therbuniten mit kaltem Blick.

»Nein ... ich zweifele nicht ... an dem, was im Praiosspiegel steht.« Gordonius’ Stimme klang rauh, und er sprach abgehackt, so als müsse er sich jedes Wort abringen. »Doch seid Ihr überhaupt befugt, nach dem Recht der Inquisition zu urteilen?«

Marcian hielt dem Blick des Therbuniten stand, bis dieser schließlich sein Haupt neigte.

»Kurz vor Sonnenuntergang werde ich kommen. Sorgt dafür, daß die Kranken transportfähig sind.«

Der Inquisitor wandte sich um und ging zur Tür. Unter dem hohen Bogen wandte er sich noch einmal um. Gordonius starrte ihm mit leerem Blick nach.

»Was seid Ihr nur für ein Mann, Marcian? Und was macht Ihr mit den Menschen? Ihr sollt wissen, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben gerade darüber nachgedacht habe, ob ich einmal meine Hilfe verweigern werde, wenn sie gebraucht wird. Betet zu Praios, daß Ihr nicht verwundet werdet oder aus einem anderen Grund eines Tages meiner Heilkunst bedürft.«

»Los, los, los. Beeilt Euch!« kommandierte Marcian in scharfem Ton. Er hatte den Nachmittag damit verbracht, dreißig besonders zähe Soldaten auszuwählen. Männer und Frauen, deren Seele sich so weit verhärtet hatte, daß sie für Geld alles taten. Ein Goldstück hatte er jedem von ihnen versprochen. Ein fürstlicher Lohn für nur zwei oder drei Stunden Arbeit. Marcian hatte befohlen, allen Kranken die Hände auf den Rücken zu binden. Nun zerrten die Kriegsknechte sie an den Fesseln aus dem Tempel. Wer nicht mehr die Kraft zu gehen fand, wurde rücksichtslos über den Boden geschleift.

Rund um den Perainetempel hatten sich Dutzende gröhlender Bürger eingefunden. »Ins Feuer mit Ihnen! Vernichtet die Dämonenanbeter!« tönte es aus der Menge.

Die Soldaten versuchten, mit ihren Hellebarden die Bürger zurückzudrängen. Eine Frau durchbrach die Kette der Krieger und warf sich vor einen der beiden Karren, auf die die Kranken gezerrt wurden, in den Schlamm.

»Tötet die Bestie, die meinen Mann besessen hat. Vernichtet den Dämon.«

Hysterisch schreiend riß sie sich ihr Kleid von den Schultern und begann sich mit den Nägeln Brust und Arme blutig zu kratzen. »Sieh mich, o mein Herr, Praios! Ich büße für meinen Mann, damit du ihn in dein Himmelreich aufnimmst. Zerschmettere die Dämonen!«

»Los, schafft sie weg!« befahl Marcian schroff.

Zwei Krieger packten die Frau bei den Schultern und stießen sie in die Menge zurück.

»Es sind alle auf den Wagen«, meldete der magere Weibel, der die Kriegsknechte kommandierte.

»Gut, dann laßt die Wagen anfahren!« Marcian mußte schreien, um das Lärmen der Menge zu übertönen.

»Die Göttin wird dich dafür verfluchen«, raunte es hinter dem Inquisitor. Ruckartig drehte der Kommandant sich um und blickte in das Gesicht von Gordonius.

»Hörst du mich«, raunte der alte Heiler. »Dafür, daß du Kranke von Söldlingen aus ihrem Tempel hast zerren lassen, wird Peraine dich verfluchen.«

Marcian maß den Mann mit eisigem Blick, bevor er antwortete. »Und du kannst gewiß sein, daß das Auge des Praios auf dir ruht. Wer dagegen aufbegehrt, daß ich die Larven vernichte, aus denen schon bald gottlose Dämonen geboren würden, der ist ein Ketzer. Vergiß nicht, daß der Arm der Inquisition eines Tages auch wieder bis Greifenfurt reichen wird, Gordonius. Und dann bete zu Peraine, daß sie dich vor dem Zorn der Diener des Praios bewahren möge.«

Die Ochsenkarren hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Mühsam bahnten die Soldaten ihnen einen Weg durch die aufgebrachte Menge. Marcian schloß mit langen Schritten zu den Söldnern auf.

Hatte Gordonius recht? War er ein Unmensch? Er folgte nur den Vorgaben des Praiosspiegels. Selbst Cindira fand seine Entscheidung richtig. Noch vor wenigen Wochen hatte er die Kranken vor dem Mob beschützt. Und nun war er es, der das Todesurteil über sie sprach. Aber er hatte keine Wahl mehr gehabt. Oder ...

Bis vor ein paar Tagen hatte Marcian noch darauf gehofft, daß sich Peraine der Unglücklichen in ihrem Tempel vielleicht erbarmen würde. Aber jetzt durfte er nicht mehr länger warten.

»Tod den Dämonenkindern!«

Die Bürger am Straßenrand hatten sich in eine fanatische Raserei hineingesteigert, die fast nicht mehr unter Kontrolle zu halten war. Einige schleuderten Steine nach den Unglücklichen auf dem Wagen. Andere warfen sich beim Anblick der gräßlich entstellten Männer und Frauen auf den Boden, um wimmernd zu den Göttern zu beten.

Die meisten der Kranken in den beiden Karren bekamen wahrscheinlich nicht mehr mit, was um sie herum geschah. Apathisch standen sie auf den Wagen und rührten sich kaum. Obwohl sie bei dem eisigen Wind, der an ihren dünnen, weißen Büßerhemden zerrte, eigentlich erbärmlich frieren mußten. Eine der Gestalten wand sich schreiend in ihren Fesseln. Gellend stieß sie Laute aus, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Dieser Dämon hatte wohl begriffen, daß er mit dem Körper, dessen er sich bemächtigt hatte, bald sterben würde, dachte Marcian grimmig.

Die Wagen hatten die ausgebrannten Vorratshäuser an der nördlichen Mauer passiert und bogen nun scharf ab. Die Straße stieg hier steil an und führte geradewegs auf den Platz der Sonne.

Einige der Soldaten griffen in die Speichen der beiden Leiterwagen, die die Steigung kaum bewältigten. Laut wieherten die ausgemergelten Pferde vor den Wagen, denen das Geschirr tief ins sehnige Fleisch schnitt. Ganz so, als hätten sie begriffen, was die Stunde geschlagen hatte, begannen immer mehr der Kranken aufzuschreien. Einige verdrehten ihre Köpfe in groteskem Winkel, und eitriger Schaum tropfte von ihren schwarz verfärbten, rissigen Lippen. Andere gröhlten mit dunklen Stimmen gotteslästerliche Flüche.

Marcian versuchte die Ohren davor zu verschließen. Kein Zweifel, diese Männer und Frauen waren nicht mehr zu retten.

Jetzt konnte er die Pfähle des gewaltigen Scheiterhaufens vor sich aufragen sehen, der während der Mittagsstunden auf dem Platz der Sonne aufgeschichtet worden war. Bürger und Soldaten hatten Bretter und rußgeschwärzte Balken aus der ganzen Stadt zusammengetragen. Die Trümmer ausgebrannter Häuser. Vor dem Scheiterhaufen hatte sich eine Handvoll Männer und Frauen aufgebaut, die trotz der Kälte nur Lendentücher trugen. Wie in Ekstase schlugen sie sich mit Peitschen und dornendurchwirkten Geißeln auf die nackten Oberkörper, so daß ihnen die Haut in blutigen Fetzen herabhing.

»Praios, erbarme dich!« wiederholten sie in endlos monotonem Singsang. Angeführt wurden die Flagellanten von Glombo Brohm. Der alte Kaufmann war fast nicht mehr wiederzuerkennen. Seit er eines Morgens den abgetrennten Kopf seines Sohnes auf dem Tisch neben seinem Bett gefunden hatte, schien er den Verstand verloren zu haben. Er hatte alle seine Diener entlassen und aß fast nichts mehr. Der feiste Dickwanst von einst war zu einem mageren Gerippe geworden. Mehr Fanatiker hatten sich um ihn gescharrt, um durch Askese und Selbstgeißelung das Unglück von der Stadt zu wenden.

Marcian lächelte zynisch. Es war nicht schwer, in Greifenfurt Asket zu sein. Erst vor drei Tagen hatte er die Lebensmittelrationen wieder kürzen müssen, die an jedem Morgen im Hof der Garnison an die Bewohner der Stadt ausgeteilt wurden. Wohin er auch blickte, überall sah er spitze, hohlwangige Gesichter.

Fast alle Säuglinge waren in den letzten Wochen gestorben, weil die Milch in den Brüsten ihrer Mütter versiegt war. Auch die Ammen waren zu ausgezehrt, um die Kinder retten zu können, und Milchkühe gab es schon lange nicht mehr in Greifenfurt.

Die Wagen hatten den Gipfel des kleinen Hügels erreicht, und die Soldaten begannen damit, die Kranken herunterzuzerren.

»Gebt sie dem Feuer!« erscholl es aus der Menge. »Reinigt die Stadt von dem Bösen!«