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Eines der Dinge, die ich vergessen (oder vielleicht nie gewusst) habe, war, dass es mehrere Probeläufe gab, ehe John White, die Dares und mehr als einhundert weitere Männer, Frauen und Kinder Ende Juli 1587 auf der Insel Roanoke auftauchten. Seit dem Jahr 1584 hatten sich immer wieder ver schiedene Gruppen (ausschließlich männlicher) Entdecker und Soldaten auf der Insel niedergelassen. Und alle diese Probeläufe endeten aus unter schiedlichen Gründen in Katastrophen und legten den Grundstein für wei tere Desaster. Ungeachtet der Tatsache, dass eine große Dürre herrschte und die eigentlichen Inselbewohner selbst kaum genug zu essen hatten, erwarte ten die Engländer von den Ureinwohnern, sie mit Nahrungsmitteln zu ver sorgen. Dabei verhielten sich die Engländer den Indianern gegenüber fast schizophren, indem sie sich abwechselnd mit ihren neuen Nachbarn an freundeten oder sie töteten. Auf den puren Verdacht hin, ein Indianer könnte einen silbernen Abendmahlbecher gestohlen haben, brannten sie ein ganzes Dorf nieder und zerstörten die Maisernte der Bewohner. Später stahlen und aßen sie die Hunde anderer Indianer. Außerdem entführten sie den kleinen Sohn eines berühmten indianischen Anführers. Nichts von alldem war dazu angetan, die Engländer den Ureinwohnern sonderlich sympathisch zu machen. Als Virginia Dares Eltern und die anderen Kolo nisten im Sommer des Jahres 1587 auf Roanoke eintrafen, gingen sie davon aus, dort fünfzehn Soldaten vorzufinden, die als Bewachung eines eng lischen Forts zurückgelassen worden waren. Stattdessen entdeckten sie das Skelett eines vermutlich von Indianern getöteten Soldaten. Was aus den anderen vierzehn Männern wurde, weiß niemand.

Diese erste Entdeckung muss sehr entmutigend gewesen sein, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Sechs Tage nach ihrer Ankunft wurde einer der Kolonisten, George Howe, von Indianern getötet, während er allein nach Krebsen suchte. Er hinterließ einen kleinen Sohn, der nun Waise war. Als die Kolonisten beschlossen sich für den Mord an Howe zu rächen und ein nahe gelegenes Indianerdorf angriffen, stellten sie mitten im Kampf fest, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten: In dem Dorf lebten Men schen, die den Engländern freundlich gesonnen und keineswegs ihre Feinde waren, wie sie geglaubt hatten.

Erstaunlicherweise scheinen die Indianer bereit gewesen zu sein, über diesen »Fehler« hinwegzusehen. Trotzdem hatten die Kolonisten von Roa noke noch mehr als genug andere Probleme. Aus verschiedenen Gründen hatten sie es versäumt, sich auf dem Weg nach Amerika mit den nötigen Vorräten einzudecken, und das galt auch für Nahrungsmittel. Da die Kapi täne der Schiffe, mit denen sie übersetzten, bestrebt waren, den Großteil der Segelsaison mit dem Kapern fremder Schiffe zuzubringen ein wiederkeh rendes Thema in der Geschichte der Engländer auf Roanoke , trafen die Kolonisten erst im Spätsommer auf der Insel ein; zu spät, um noch irgend etwas anzupflanzen. Und schließlich war eines der Dinge, das die Engländer aus den vorangegangenen Probeläufen gelernt hatten, die Tatsache, dass die Insel Roanoke im Grunde ein lausiger Ort und wenig geeignet war, um sich dort niederzulassen. Daher hatten die Kolonisten vor, sich dieses Mal weiter nördlich anzusiedeln, im Gebiet der Chesapeake Bay. Doch Simon Fernandez, der Kapitän und Lotse ihrer Schiffe, weigerte sich, so wird be richtet, sie an einen anderen Ort zu bringen. Viele der Spekulationen um das Schicksal der Kolonie von Roanoke ranken sich um diesen Mann. Hat

Fernandez die Kolonie mit Absicht sabotiert? Falls ja, wer gab ihm den Auftrag dazu? Und warum? Stand er insgeheim im Dienst der Spanier? Oder wurde er von einem Feind Raleighs am englischen Hof bestochen?

Oder hat man Fernandez' Absichten schlicht und einfach missverstan den, weil seine Version der Geschichte nie überliefert wurde?

Auf jeden Fall erklärte sich Simon Fernandez bereit, einen Kolonisten mit nach England zurückzunehmen, der dort um weitere Vorräte bitten sollte: John White. Seinen eigenen Angaben zufolge verließ er Roanoke nur un willig, doch die anderen Kolonisten überredeten ihn, weil sein Wort den größten Einfluss und er die besten Chancen haben würde, Hilfe zu organi sieren.

In England stellte sich White ein Hindernis nach dem anderen in den Weg. Da man einen Seeangriff der Spanier befürchtete, befahl Königin Elisabeth alle Schiffe in den Häfen zu lassen und sie darauf vorzubereiten, ihr Land zu verteidigen. Irgendwann erhielt White die Erlaubnis loszu segeln, sie wurde ihm jedoch, noch ehe er in See stechen konnte, wieder entzogen. Ein anderes Mal brach White mit einem kleinen Schiff, Vorräten und fünfzehn neuen Kolonisten auf, kam aber nie in Amerika an. Statt dessen verübte ihr Schiff diverse Überfälle und wurde schließlich selbst von einem französischen Kaperschiff attackiert. White wurde bei den Kämpfen zweimal verwundet und ihr Schiff am Ende so stark beschädigt, dass es nach England zurückkehren musste. Einige Monate später griff die spanische Armada an. Doch selbst nachdem England die Spanier in jener legendären Schlacht besiegt hatte, waren die Geldgeber der Kolonie von Roanoke offen sichtlich zu abgelenkt, um sofort einen Rettungsversuch zu organisieren.

Schließlich brach White am 20. März 1590 ein weiteres Mal nach Ame rika auf, drei Jahre nachdem er seine Kolonie dort zurückgelassen hatte. Fahren durfte er nur, weil er sich bereit erklärt hatte, keine neuen Kolonisten mitzunehmen. In seinen Aufzeichnungen beklagt er sich darüber, dass man ihm nicht einmal gestattete einen Jungen mitzunehmen, der ihm auf der Überfahrt als Diener zur Hand gehen sollte. Der Kapitän des Schiffes wollte so viel Stauraum wie möglich für die Schätze freihalten, die er durch Kaper überfälle zu erbeuten hoffte. Auch ließ er sich unterwegs reichlich Zeit und fuhr einen Umweg, um mitzuhelfen ein spanisches Schiff zu überfallen. White selbst beschrieb die Situation mit den Worten: »Sowohl die Eigner als auch die Kapitäne und Seeleute scher(t)en sich wenig um das Wohl ihrer Landsleute« in der Kolonie von Roanoke.

Das Schiff, mit dem White unterwegs war, die Hopewell, erreichte die Insel schließlich Mitte August des Jahres 1590. Am ersten Abend schöpfte White Mut, als er in der Gegend, in der er die Kolonie zurückgelassen hatte, Rauch aufsteigen sah. Am nächsten Morgen sahen sie jedoch von einer anderen nahe gelegenen Insel Rauch aufsteigen und beschlossen zuerst dort zu suchen. Vergeblich. Sie begegneten keinem Menschen und das Feuer hatte offensichtlich natürliche Ursachen. Am nächsten Tag setzten zwei Ruder boote nach Roanoke über. Eines davon kenterte in der gefährlichen Bran dung und sieben Männer ertranken. Als die Überlebenden sich um alles ge kümmert hatten, beschlossen sie, dass es inzwischen zu spät und zu dunkel sei, um nach Roanoke zu gelangen. Von ihrem nahe gelegenen Ankerplatz aus sahen sie ein weiteres Feuer auf der Insel, also versuchten White und die anderen, die Kolonisten durch Rufe, Trompetespielen und das Singen be kannter englischer Lieder auf sich aufmerksam zu machen. Sie erhielten keine Antwort, und als White und die Seeleute am folgenden Morgen auf Roanoke an Land gingen, stellten sie fest, dass trockenes Gras und abge storbene Bäume die Ursache des Feuers gewesen waren. Auf dem Weg zur Kolonie entdeckten sie Fußspuren im Sand, die von Indianern stammten, wie White vermutete, doch sie begegneten niemandem.

Der Rest der Geschichte verlief so, wie Andrea und Katherine sie geschil dert haben: White und die Männer in seiner Begleitung fanden die Kolonie verlassen und fast gänzlich zerstört vor. In einen Baum in der Nähe waren die Buchstaben CRO eingeritzt und auf einen Holzpfahl des Forts (das die Kinder im Buch als Zaun bezeichnen, obwohl White es wohl eher eine Pa lisade genannt hätte) das Wort CROATOAN. Zu seinem Entsetzen musste White feststellen, dass einige seiner eigenen Besitztümer (darunter auch eine Rüstung) samt der großen Koffer, in denen sie versteckt gewesen waren, ausgegraben und verstreut in der Gegend herumlagen, wo sie vor sich hin rosteten und vermoderten. Die Schuld daran gab er feindlichen Eingebo renen. Überglücklich hingegen machte ihn das eingeritzte CROATOAN, be sonders da sich kein Kreuz neben dem Wort befand. Ein Kreuz war das Zeichen, das er mit den Kolonisten vereinbart hatte, um anzuzeigen, dass sie die Insel aus Not, Elend oder Gefahr verlassen hatten. White kam zu dem Schluss, dass seine Kolonisten auf der Insel Croatoan (vermutlich die Insel, die heute als Hatteras bekannt ist) bei dem dort lebenden freundlich gesinnten Stamm der Croatoan Indianer in Sicherheit waren.