Выбрать главу

»Ich arbeite für niemanden!«, rief Andrea. »Ich habe nur ...« Ihre restlichen Worte konnte Jonas nicht mehr verstehen, weil sie in Schluchzen untergingen.

»Jonas!«, schimpfte Katherine und boxte ihm gegen die Schulter. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, sie derart zu beschuldigen und zum Weinen zu bringen!«

Einen Moment lang klang Katherine wie ihre Mutter und Jonas wurde ein bisschen weh ums Herz. Es war absolut möglich, dass er und Katherine ihre Eltern niemals wiedersehen würden - wegen Andrea. Gleichzeitig beschämte ihn der mütterliche Ton seiner Schwester. Er war normalerweise niemand, der andere zum Weinen brachte. Und er hatte Andrea, die so zerbrechlich und traurig ausgesehen hatte, so gerne helfen wollen - wofür er sich jetzt, da er wusste, dass sie von ihr hereingelegt worden waren, noch dümmer vorkam.

Wie konnte er so viele verschiedene Dinge gleichzeitig empfinden?

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Sieh mal«, sagte er zu Katherine und deutete auf die kleine Tasche an Dares Halsband. »Sie sitzt hundertpro-zentig fest. Es gab überhaupt keinen Grund für Andrea, den Definator herauszuholen. Sie muss von Anfang an geplant haben ihn loszuwerden. Deshalb hat sie sich so komisch benommen, seit wir hier angekommen sind.« Er dachte an ihr lautloses Weinen, daran, wie sie gezögert hatte HK die Hand zu schütteln, und an ihr Beharren, sich in die Vergangenheit zurückschicken zu lassen, ohne zuerst in Kenntnis gesetzt zu werden. »Besser gesagt, seit wir ihr wiederbegegnet sind.«

Katherine bückte sich, um die Tasche mit eigenen Augen zu betrachten. Sie zog in alle Richtungen und zerrte ebenso fest daran wie Jonas. Dare winselte leise -vermutlich war das Gezerre für ihn nicht sehr angenehm - und Katherine ließ los.

»Also, Andrea?«, sagte sie misstrauisch.

Diese tat einen tiefen Atemzug, der drohte, sich wieder in ein Schluchzen zu verwandeln. Doch dann verzog sie das Gesicht und bemühte sich offensichtlich die Tränen zurückzuhalten.

»Ich wollte den Definator nicht verlieren«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ehrlich. Das war ein Fehler. Aber .«

»Aber was?«, fragte Jonas. Er gab sich Mühe, kalt, hart und selbstgerecht zu klingen, wie die Staatsanwälte im Fernsehen. Stattdessen waren ihm auch seine anderen, eher verwirrten Empfindungen anzuhören.

Er klang vor allem mitfühlend.

Andrea schniefte. Sie lehnte sich an den umgefallenen Zaun, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum.

»Der Mann ist gestern Abend zu mir nach Hause gekommen«, berichtete sie. »Also am Abend bevor wir aufgebrochen sind. Ich weiß nicht, wie er heißt oder für wen er arbeitet. Vermutlich hätte er mir auch nicht die Wahrheit gesagt, wenn ich ihn danach gefragt hätte. Ich wusste, dass er aus der Zukunft kommt. Es sah aus, als würde er einfach aus der Wand heraustreten. Und er wusste ... zuviel. Über mich.«

»Ja und? Hat er dich erpresst?«, fragte Katherine. »Was hast du angestellt? Jemanden umgebracht?«

Jonas war klar, dass Katherine nur einen Witz hatte machen wollen, um die Stimmung aufzuhellen. Doch wie es schien, hatte sie genau das Falsche gesagt. Kummer verdüsterte Andreas Gesicht und Jonas fürchtete schon, sie würde wieder die Fassung verlieren. Dann legte sich, wie zuvor, eine Art Maske über ihr Gesicht, die alle Gefühle verbarg. Nur dass es diesmal nicht ganz so plötzlich geschah oder nicht ganz so vollständig. Jonas hatte das Gefühl, immer noch Risse sehen zu können, kaputte Stellen, die sich nicht schließen wollten.

»Niemand hat mich erpresst«, sagte Andrea. »Zumindest war es keine Erpressung wie im Fernsehen, wo es immer nur um Geld geht. Er hat nicht einmal eine Gegenleistung verlangt.«

»Eine Gegenleistung für was?«, fragte Jonas. »Wovon redest du?« Er spürte, wie die Furcht von ihm Besitz ergriff. Seine Nackenhaare sträubten sich und er bekam eine Gänsehaut. Was immer Andrea ihnen gleich erzählen mochte, es würde schrecklich sein.

Sie ließ seine Frage unbeantwortet.

»Mir ist klar, dass es wahrscheinlich ziemlich dumm war, okay?«, sagte sie. »Und ich weiß auch, dass ich dem Mann nicht hätte vertrauen dürfen. Aber wenn es eine Chance gab, musste ich es doch versuchen! Versteht ihr das nicht?«

»Was versuchen?«, fragten Jonas und Katherine wie aus einem Mund.

Andrea sah zu ihnen auf und kämpfte gegen die Tränen.

»Ich musste doch versuchen meine Eltern zu retten.«

Jetzt war Jonas noch verwirrter als zuvor.

»Du meinst, Mistress Dare und - wie heißt das noch mal? - Master Dare?«, fragte er.

»Nein, meine echten Eltern. Die, die ich kannte.« Es schien Andrea wütend zu machen, dass Jonas sie nicht verstand. »In unserer Zeit. Dem einundzwanzigsten Jahrhundert.«

Jonas begriff, was das Problem war: Andrea verstand das Konzept der Zeitreisen nicht.

»Du musst dir um deine Eltern keine Gedanken machen, Andrea«, sagte er und hätte fast geschmunzelt, hielt sich aber zurück. Er wollte sie nicht dafür in Verlegenheit bringen, dass sie etwas nicht verstand. »Es geht ihnen gut. Sie warten auf uns, zu Hause im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir müssen nur die Geschichte verlassen - aber diesmal auf die richtige Art -, dann kannst du nach Hause zurück und sie wiedersehen. Ehrlich.«

Jonas sprach mit dem gleichen beruhigenden Tonfall, den er als Hilfsmentor bei heimwehkranken Wölflingen im Pfadfinderlager angewandt hatte. Also wirklich! Wenn Andrea die ganze Zeit über so durcheinander gewesen war, warum hatte sie dann nicht einfach nachgefragt?

Andrea schüttelte den Kopf.

»Nein, Jonas«, stellte sie klar. »Meine Eltern warten im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht auf mich.«

»Natürlich tun sie das«, widersprach Jonas. »Und das Tolle ist, dass du nur einen Sekundenbruchteil nachdem du aufgebrochen bist, wieder zurückkommst, daher werden sie gar nicht wissen, dass du fort warst.«

»Kapierst du denn nicht?«, sagte Andrea. Sie klang jetzt nicht mehr wütend. Der Kummer in ihrer Stimme verdrängte alles andere. »Meine Eltern im einundzwanzigsten Jahrhundert sind tot.«

Neun

Jonas und Katherine starrten Andrea mit offenem Mund an. Darauf wäre Jonas nie gekommen. Diese Möglichkeit war einfach zu schrecklich.

»Es war ein Autounfall«, sagte Andrea. »Im letzten Jahr.«

Sie klang jetzt taffer, brüsker, als hätte sie gelernt, nicht nur ihren Gesichtsausdruck, sondern auch ihre Stimme zu maskieren.

»Das -«, begann Katherine.

»Sag nicht, dass es dir leidtut. Und auch nicht, dass du dir vorstellen kannst, wie es sich anfühlt«, sagte Andrea. »Das kannst du nämlich nicht.«

Jonas versuchte es trotzdem. Wie war es wohl, Mutter und Vater zu verlieren? Beide auf einmal.

»Du meinst deine Adoptiveltern?«, fragte er vorsichtig. »Die dich nach dem Zeitunfall zu sich genommen haben?«

Er hoffte sie irgendwie falsch verstanden zu haben.

»Ja, meine Adoptiveltern«, sagte Andrea ungeduldig. »Meine echten Eltern, das habe ich doch gesagt, oder nicht?«

Jonas kämpfte weiter mit der Vorstellung, dass je-mand mit dreizehn Jahren bereits zwei Paar Eltern verloren haben konnte. Katherine schniefte, als wollte sie stellvertretend für Andrea losheulen.

»Ich spreche nicht gern darüber«, sagte Andrea. »Normalerweise lasse ich es, weil sich die Leute sonst so aufführen.« Mit einer vagen Handbewegung deutete sie auf Jonas und Katherine. Jonas versuchte sich ein wenig aufzurichten und ein normales Gesicht zu machen, was nicht einfach war.

»Aber du hast es uns erzählt, weil... weil es mit etwas zusammenhängt, das dieser Mann gesagt hat?«, vermutete Katherine, die immer noch verwirrt klang. »Irgendwas . über den Definator?«