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Gewöhnlich verbrachten die drei sechs bis acht Stunden täglich in der juristischen Bibliothek. Wenn einer der Insassen ein juristisches Problem hatte, vereinbarte er einfach einen Termin mit einem der

Richter und suchte ihn dort auf. Hatlee Beech war Experte für Strafmaße und Berufungen. Finn Yarber kümmerte sich um Konkursverfahren, Scheidungen und Sorgerechtsfragen. Joe Roy Spicer besaß keine formale juristische Ausbildung und hatte daher auch kein Spezialgebiet. Er wollte kein Spezialgebiet. Er schrieb die Briefe.

Strenge Regeln verboten es den Richtern, für ihre Beratungen ein Honorar zu verlangen, doch strenge Regeln bedeuteten wenig. Immerhin waren sie ja alle verurteilte Verbrecher, und wen störte es schon, wenn sie ein bisschen nebenbei verdienten? Am meisten brachten die Strafmaße ein. Bei etwa einem Viertel der Neuankömmlinge in Trumble enthielt die Urteilsbegründung juristische Fehler. Beech konnte sich eine Akte über Nacht vornehmen und etwaige Schlupflöcher finden. Vor einem Monat war es ihm gelungen, für einen jungen Mann, der fünfzehn Jahre bekommen hatte, vier Jahre herauszuschinden. Dessen Familie hatte nur zu gern bezahlt, und so hatte die Bruderschaft ihr bisher höchstes Honorar verdient: 5000 Dollar. Spicer hatte über ihren Anwalt in Neptune Beach eine Überweisung auf ihr geheimes Konto arrangiert.

Am hinteren Ende der juristischen Bibliothek befand sich ein kleines Besprechungszimmer, dessen verglaste Tür hinter Regalen verborgen und daher vom Hauptsaal aus kaum zu sehen war. Es interessierte sich ohnehin niemand dafür, was dort geschah. In diesen Raum zogen sich die Richter zurück, wenn sie vertrauliche Dinge zu besprechen hatten. Sie nannten ihn das Richterzimmer.

Spicer hatte soeben Besuch von ihrem Anwalt gehabt, der ihm Post gebracht hatte — ein paar wirklich erfreuliche Briefe. Er schloss die Tür, zog einen Umschlag aus einem Schnellhefter und zeigte ihn Beech und Yarber.»Gelb«, sagte er.»Ist das nicht hübsch? Ein Brief für Ricky.«

«Von wem?«fragte Yarber.

«Von Curtis aus Dallas.«

«Ist das der Bankier?«fragte Beech aufgeregt.

«Nein. Curtis ist der mit den Schmuckgeschäften. Hört zu. «Spicer faltete den auf weichem, gelbem Papier geschriebenen Brief auseinander und las ihn vor:»>Lieber Ricky! Dein Brief vom 8. Januar hat mich zum Weinen gebracht. Ich habe ihn dreimal gelesen, bevor ich ihn aus der Hand legen konnte. Du armer Junge! Warum lassen sie dich nicht raus?<«

«Wo ist Ricky?«fragte Yarber.

«Ricky sitzt in einer teuren Drogenklinik, die sein reicher Onkel bezahlt. Er ist jetzt seit einem Jahr da drin, clean und völlig geheilt, aber die bösen Leute von der Klinik wollen ihn erst im April rauslassen, weil sie 20000 Dollar pro Monat von seinem Onkel kriegen, der ihn hinter Schloss und Riegel haben will und ihm kein Taschengeld schickt. Weißt du das etwa nicht mehr?«

«Jetzt fällt's mir wieder ein.«

«Wir haben doch gemeinsam an der Geschichte gefeilt. Darf ich jetzt weiterlesen?«

«Bitte.«

Spicer fuhr fort:»>Am liebsten würde ich auf der Stelle kommen und diese verbrecherischen Leute zur Rede stellen. Und deinen Onkel ebenfalls. Was für ein Versager! Reiche Leute wie er denken immer, wenn sie Geld schicken, brauchen sie sich nicht selbst zu kümmern. Ich habe dir ja schon geschrieben, dass mein Vater sehr reich war, aber zugleich war er auch der unglücklichste Mensch, den ich je gekannt habe. Er hat mir zwar alles Mögliche gekauft, aber das waren bloß Dinge, die irgendwann kaputtgingen und mir nichts bedeutet haben. Er hatte nie Zeit für mich. Er war ein

kranker Mann, genau wie dein Onkel. Für den Fall, dass du irgendetwas aus dem Klinikladen brauchst, habe ich einen Scheck über 1000 Dollar beigelegt.

Ach, Ricky, ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Ich habe meiner Frau gesagt, dass in Orlando im April eine internationale Diamantenschau stattfindet, und sie hat keine Lust, mich zu begleiten.<«

«Im April?«fragte Beech.

«Ja, Ricky ist sicher, dass er im April entlassen wird.«

«Geht einem das nicht zu Herzen?«sagte Yarber lächelnd.»Und Curtis hat Frau und Kinder?«

«Curtis ist dreiundfünfzig und hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder.«

«Wo ist der Scheck?«fragte Beech.

Spicer drehte den Briefbogen um und las weiter:»>Wir müssen uns unbedingt in Orlando treffen. Bist du sicher, dass sie dich im April rauslassen? Bitte sag, dass es so ist! Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht an dich denke. Ich habe dein Foto in meinem Schreibtisch, und wenn ich in deine Augen sehe, weiß ich, dass wir füreinander bestimmt sind.<«

«Krank«, sagte Beech, ebenfalls lächelnd.»Und so was kommt aus Texas.«

«In Texas gibt's bestimmt noch mehr von der Sorte«, sagte Yarber.

«Und in Kalifornien nicht?«

«Der Rest ist bloß Gelalle«, sagte Spicer, der den Brief rasch überflog. Sie würden ihn später eingehend studieren. Er hielt den Scheck über 1000 Dollar hoch, damit seine Kollegen ihn sehen konnten. Zu gegebener Zeit würde er von ihrem Anwalt hinausgeschmuggelt und auf ihr geheimes Konto eingezahlt werden.

«Wann lassen wir die Bombe platzen?«fragte Yarber.

«Lasst uns erst noch ein paar Briefe wechseln. Ricky muss sich ein bisschen ausweinen.«

«Vielleicht könnte einer der Wachmänner ihn verprügeln oder so«, schlug Beech vor.

«Es gibt dort keine Wachmänner«, antwortete Spicer.»Immerhin ist es eine teure Drogenklinik. Die haben keine Wachen, sondern Berater.«

«Aber es ist eine geschlossene Anstalt, oder nicht? Das heißt, es gibt Zäune und Tore und das wiederum heißt, dass sie ein paar Wachen haben. Und wenn Ricky nun beim Duschen oder im Umkleideraum von einem Finsterling überfallen wird, der es auf seinen schönen Körper abgesehen hat?«

«Nein, keine sexuellen Übergriffe«, sagte Yarber.»Das könnte Curtis abschrecken. Er könnte auf die Idee kommen, dass Ricky sich was Ansteckendes eingefangen hat.«

Und so bastelten sie noch ein paar Minuten an Rickys trauriger Geschichte. Sein Foto stammte von der Pinnwand eines anderen Gefängnisinsassen und war von ihrem Anwalt kopiert und inzwischen an mehr als ein Dutzend Brieffreunde in ganz Amerika verschickt worden. Es war das Foto eines lächelnden Universitätsstudenten mit dunkelblauer Robe und Doktorandenhut, der ein zusammengerolltes Diplom in der Hand hielt. Er war ein sehr gut aussehender junger Mann.

Man beschloss, Beech solle die Geschichte in den kommenden Tagen weiterentwickeln und einen groben Entwurf des nächsten Briefes an Curtis ausarbeiten. Beech war Ricky und im Augenblick hielt dieser arme, gequälte Junge acht Anteil nehmende Männer über sein Unglück auf dem Laufenden. Richter Yarber war Percy — ebenfalls ein junger Mann, der, mittlerweile geheilt, in einer Drogenklinik saß, auf seine baldige Entlassung wartete und einen älteren, wohlhabenden, verständnisvollen Mann suchte, um mit ihm eine wunderbare Zeit zu verbringen. Percy hatte fünf Angeln ausgeworfen, die er langsam einholte.

Richter Joe Roy Spicer besaß kein großes schriftstellerisches Talent. Er koordinierte alles, half beim Ausdenken der Geschichten, sorgte dafür, dass sie stimmig waren, und hielt den Kontakt zu dem Anwalt, der ihnen die Post brachte. Und er kümmerte sich um das Geld.

Er zog einen zweiten Brief hervor und verkündete:»Und dies, Eure Ehren, ist von Quince.«

Beech und Yarber erstarrten und sahen den Brief an. Aus den sechs Briefen, die Quince an Ricky geschrieben hatte, war hervorgegangen, dass er ein reicher Bankier aus einer kleinen Stadt in Iowa war. Wie alle anderen hatten sie ihn durch eine Kontaktanzeige in den Schwulenmagazinen gefunden, die jetzt in der juristischen Bibliothek versteckt waren. Er war der zweite, der angebissen hatte — der erste hatte Verdacht geschöpft und nicht mehr geantwortet. Quinces Foto war ein Schnappschuss am Ufer eines Sees und zeigte ihn im Kreis seiner Familie, mit nacktem Oberkörper und dem Schmerbauch, den dünnen Armen, dem schütteren Haar eines Einundfünfzigjährigen. Es war ein schlechtes Foto, das Quince zweifellos deshalb ausgesucht hatte, weil es nicht leicht sein würde, ihn zu identifizieren, sollte es jemand versuchen.